Die #Zivilisation hat den #Menschen vor dem #Schwert errettet, um ihn dem #Messer des #Chirurgen auszuliefern.

Die Zivilisation hat den Menschen vor dem Schwert errettet, um ihn dem Messer des Chirurgen auszuliefern.

FALSCHE HASEN

Foto © NASA 1972

 

Die Logik war der Glaube der Griechen. Die heutige Wissenschaft hat diesen Glauben beerbt, von daher tragen ihre einzelnen Disziplinen die Logik im Namen: Theo-logie, Bio-logie, Anthropo-logie. Es gibt daneben Kulturen, die an etwas anderes glauben oder geglaubt haben. Die Wirklichkeit ist ja – anders als man meint – gerade nicht gleichbedeutend mit dem Raum von Gründen, den die Logik stiftet. Alles, behauptet die Logik, habe seinen Grund. Aber die Liebe hat keinen Grund, ebenso die Kunst. Liebe und Kunst haben keinen Grund, sie liefern Gründe.

Wirklichkeit geht nicht in einem Rationalitätskontinuum auf, ansonsten sie ja mit der Wissenschaft homo-log wäre. Das ist ersichtlich nicht der Fall. Immerhin hat der Satz vom Grund (auf dem Logik beruht) selbst keinen Grund. Wirklichkeit besteht vielmehr aus Diskontinuitäten, aus Falten,

Wir, als konkrete lebende Wesen, sehen abends einen flammenden Sonnenuntergang. Der Physiker, der seltsamerweise nur das für wirklich und wahr hält, was er nicht sehen kann, erkennt im entflammten Sonnenuntergang nur ein Gewimmel von Atomen und elektronischen Ladungen. Darum nennen wir ihn einen Reduktionisten. Er nimmt von der Wirklichkeit etwas weg. Farben, Gerüche, Träume und Gedanken gibt es für ihn nicht. Er hält sie für Halluzinationen, für Produkte des Gehirns. Künstler, Dichter und Philosophen dagegen fügen der Wirklichkeit etwas hinzu.

Wirklichkeit ist abgründig, denn etwas ist immer äh?twas. Europa hat sich seit Beginn der Neuzeit zum Sklaven einer Rationalitätsfiktion gemacht – die sich von daher als Zivilisation bezeichnet, alle anderen aber als Naturvölker. Naturvölker haben kein Wort für Zivilisation; gleichwohl haben sie naturgemäß die Sache: Sie sind zivilisiert. Tiere und Pflanzen bilden ebenfalls Zivilisationen (im Sinn von Ordnungen) aus, auch wenn sie naturgemäß kein Wort dafür haben. Und die Infrastruktur, die jede Technik ausbildet (Autos brauchen Autobahnen, Netzwerke Strom usw.), hat keinen anderen Sinn als den, eine Welt spezifisch zu ordnen.

Entgegen dem westlichen Konzept, das die Welt manichäisch in Kultur und Natur aufteilt, gibt es Kulturen, von denen, wie der französische Ethnologe (Ethno-loge) Philippe Descola sagt, die

Organismen, die Werkzeuge, die Artefakte, die Gottheiten, die Geister, die Pflanzen und Tiere, die technischen Verfahren usw. nicht mehr einfach nur als Umfeld begriffen werden – als Ressourcen und Minen, die sich ausbeuten und nutzen lassen (TP) -, sondern als gleich berechtigte Akteure, die in gegebenen Situationen mit den Menschen agieren.

Wenn Feuer Papier verbrennt, kommuniziert es mit der Entflammbarkeit des Materials. Mit seiner Beschreibbarkeit oder Knitterbarkeit kommt Feuer dagegen gewöhnlich nicht in Kontakt. Dafür fehlt es ihm an dem entsprechenden Sensorium. Wir kommunizieren mit Papier über seine Beschreib- oder Faltbarkeit bzw. seinen ausgeprägten Hang zum Knittern. Phänomene wie Feuer, Papier, Aufzüge, Hasen oder Blumenwiesen zeigen sich uns folglich immer nur von einer bestimmten Seiten – ihrer biologischen, sensuellen, nützlichen, abstrakten, quantitativen usw. Was sie vollständig sind, zeigen uns die Phänomene nie. Nie zeigen sie sich von allen Seiten zugleich. Sie verschwinden hinter dem, was sie uns zeigen.

Die Wirklichkeit liebt es, nicht beobachtet zu werden. Sie ist scheu. Nicht nur die Bäume, auch der Rest der Wirklichkeit führt ein geheimes Leben. Wir sehen von der Wirklichkeit immer nur den Teil, der über der Oberfläche liegt. Den größten Teil bekommen wir wie bei einem Eisberg nie zu Gesicht. Es ist sogar so, dass der Eisberg unter der Wasseroberfläche im gleichen Maß wächst, wie wir von ihm oberhalb des Wasserspiegels mehr zu Gesicht bekommen. Mit jeder Bestimmung wächst das Halo der Unbestimmtheit. Das nennen wir die Bifurkation der Wirklichkeit.

Der britische Astrophysiker Arthur Stanley Eddington ist für folgende Parabel berühmt:

Ich will mit der Niederschrift dieser Vorträge beginnen und rücke meine Stühle an meine beiden Tische. Zwei Tische? Ja, denn jeder Gegenstand meiner Umgebung hat einen Doppelgänger – also zwei Tische, zwei Stühle, zwei Federn.

Es geht also um den vertrauten Tisch des Alltags auf der einen Seite und um den Tisch der Physik auf der anderen, um den uns vertrauten flammenden Sonnenuntergang und um den entflammten der Physik. Es geht um den Hasen der Biologie und um den uns vertrauten Hasen, z. B. den sogenannten falschen. Aber wie sieht der Hase für den Baum aus? Und wie für die Sonne? Denn sowohl mit der Sonne wie mit dem Baum tritt der Hase offensichtlich in Kontakt oder kann zumindest mit beiden in Kontakt treten – etwa, wenn er über eine Baum bestandene Wiese hoppelt. Wie sieht dieser dritte Hase aus, die eine weitere Seite von unendlich vielen an ihm ist. Wie kommunizieren Strömung und Fisch? Strömung und Sonnenstrahl? Der spekulative Metaphysiker Graham Harman ist in seinem Essay Der dritte Tisch für die dOCUMENTA(13) ausführlicher darauf eingegangen (100 Notizen – 100 Gedanken No. 085).

Die Welt darf nicht mit der uns bekannten und von uns erkannten Welt gleich gesetzt werden. Die Welt ist größer, viel größer als das, was wir für die Welt halten. Wer das historisch erworbene Selbstverständnis des Menschen zugunsten einer ihm äußerlichen Beschreibungsweise, wie es die Bio-logie tut, auflöst, der ist Reduktionist. Wir – Künstler, Philosophen, Dichter – fügen zu der Welt etwas hinzu. Der wirkliche Tisch und der wirkliche Hase und der wirkliche Baum sind keine Sache der Physik, der Chemie oder des Alltags. Es sind keine Sachen der Logik, aber auch keine der Sinnlichkeit, also des Geruchs, Aussehens usw. Eher sind Sachen wie der Hase oder eine Alu-Leiter Sachen für die Kunst. Die Kunst öffnet den Raum, in dem der dritte Hase gezeigt wird – jener Hase, der dem tatsächlichen weitere Seiten hinzufügt.

Die Wirklichkeit ist ein dicht gewobenes Netzwerk. Alles steht miteinander in Kontakt, nur nicht jeder mit jedem und allem. Wir stehen zu Phänomen wie dem Papier in Relation. Wenn wir die Augen schließen, ist das Papier weg. Ebenso wenn wir schlafen. Tatsächlich bleibt es auf dem Tisch. Wo ist das wirkliche Papier? Alle Seiten, die ihm zukommen, sind jedenfalls nicht in der Welt der Tatsachen versammelt. Um es mit einem verpönten Wort zu sagen: Seine Substanz entzieht sich uns. Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen Relation und Realität. Die Kunst erklärt dem toten Hasen den richtigen.

 

Erweiterte Fassung eines Textes, der zuerst als Handzettel erschien für die Ausstellung Echo of Untouched Matter (15. Januar – 20. März 2016) in der Lothringer 13 Halle in München (Kurator:Jörg Koopmann). 

https://www.thomaspalzer.de/4865-2/

 

Deleuze, Gilles Die Falte. Frankfurt am Main 1995: Suhrkamp

Harman, Graham Vierfaches Objekt. Berlin 2015: Merve

ders. Die Rache der Oberfläche. Heidegger, McLuhan, Greenberg. Köln 2015: Walther König

Heidegger, Martin Der Ursprung des Kunstwerkes in: Holzwege. Frankfurt am Main 2003: Vittorio Klostermann

Whitehead, A. N. Prozesss und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt am Main 1987: Suhrkamp

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WELTFLUCHT (SINGULARITÄT)

Warum ist dem Menschen das Immaterielle so wichtig, das bloß Vorgestellte, an die Wand gemalte, Abstrakte und Erfundene? Warum liest er Bücher, deutet Träume, erkennt Sternbilder, wo keine sind, kritzelt auf Papier und Tisch und Wände? Was ist der Vorteil, wenn wir die Welt verdoppeln?
Gerade die Musik lehrt uns jedenfalls, dass uns Immaterielles berühren kann.

Wenn jetzt feststeht, dass der Baal-Tempel in Palmyra nicht mehr existiert, ist es weniger die Anordnung der Steine, deren Auflösung wir beklagen. Wirklichkeit ist leiblich gegeben, was bedeutet, dass sie kein Raum im Sinne einer Schuhschachtel ist, in der wir und die Dinge um uns herum enthalten sind. Der Grundriss des Tempels, den uns die Satellitenbilder zeigen, markiert einen Gefühlsraum oder gestimmten Raum, also eine bestimmte oder gestimmte Wirklichkeit, die der Tempel einmal erschlossen hat. Der Baal-Tempel ist Erlebnisraum, ist gelebter Raum, und das ist er sogar noch jetzt, wo seine architektonische Form gar nicht mehr existiert. Allerdings haben sich damit die gewöhnliche Bedeutung von Drinnen und Draußen in ihr Gegenteil verkehrt: aus einem Schutzraum ist ein Raum der Zerstörung, der Feindseligkeit und der Ausgesetztheit geworden. Drinnen ist zu Draußen geworden.

Qualitäten sind unauflösbar an unseren Körper gekoppelt; als reine Daten (um mit Ray Kurzweil zu sprechen: als Singularität) wären sie eine Sache des Verstandes, der weder sehen, riechen, hören noch schmecken kann. Der Verstand kann rechnen, aber Wahrnehmung ist keine Operation des Rechnens oder Verstandes, auch wenn es gerade populär ist, dass analog zum Computer zu beschreiben, der seinerseits nichts anderes ist als eine Anhäufung von Uhren. Es ist sogar so, dass wir aufgrund der rätselhaften Symmetrie des Körpers ein gedankliches Konzept wie These und Antithese entwickelt haben. Dieses Konzept spiegelt sich in der Verkehrung unserer Hände: die rechte ist die Antithese der linken Hand und umgekehrt.

Warum bleiben wir vor einer Schwelle stehen und warten darauf, dass man uns zum Eintreten auffordert? Die Schwelle ist nicht nur ein Stück Holz, sondern auch das, was ihre Anordnung im Raum bedeutet. Für Goethe waren Farben nicht nur Farben, sondern etwas, das eine sinnlich-sittliche Bedeutung besitzt. So gilt Rot überall in Natur und Kultur als Warnfarbe. Qualitäten sind Bedeutungen. Sie sind immateriell.

Inzwischen ist das Immaterielle sogar in das Pantheon des Weltkulturerbes aufgerückt – als Handwerkstechnik, Tanz, kulturelle Praktik wie dem Yoga, als Klassifikation wie die chinesische Einteilung des Sonnenjahres in 24 Perioden oder die dreizehntägige Woche der Hopi in Arizona. Irgendwo hat Foucault vom „großen Wegschließen“ gesprochen, das unsere Epoche prägt. Und tatsächlich werden immer mehr Bilder und Gegenstände in Museen weggeschlossen, Wörter in Giftschränken, Geschichte in Gedenktagen, die Welt wird zunehmend zu einem Depot umfunktioniert.
Das pietistische Halseisen ist zurückgekommen.

Die angeblichen Zeichen sind mir gegenüber dem, was sie bezeichnen, nicht gesondert gegeben. Darum ist die Welt kein Zeichensalat, der erst gelesen oder entschlüsselt werden müsste. Die Welt ist die Summe von Empfindungen – und die Empfindung ist das Geheimnis jeder Existenz.

Würde das Immaterielle verschwinden, wären für uns Brücken, Straßen, Tore, Tempel mit einem Schlag unverständlich – wie für die Nachgeborenen das Werk einer Zivilisation, die lange schon untergegangen ist.

In meiner Jugend las ich gern Science fiction. Viele Geschichten drehten sich um Zivilisationen, die längst untergegangen waren, deren Ruinen und Reste man aber auf einem fernen Planeten entdeckt hatte. Die Lektüre löste eine namenlose Melancholie in mir aus – eine übergeordnete, gewissermaßen metaphysische Melancholie, eine, die von mir absah und auf das große Ganze zielte – und das beschäftigte mich.

Woher stammte die Trauer, die mich ergriff, als ich erfuhr, dass auf einem Planeten, den es nicht gab und von dem ich selbst dann, wenn es ihn gegeben hätte, nie die Hoffnung hätte haben können, ihn je zu erreichen, eine Zivilisation ausgestorben oder ausgerottet worden war? Darauf gibt es nur eine Antwort: Trauer vermag das anthropozentrische Denken zu übersteigen. Wenn wir trauern, geht es nicht zwangsläufig um uns. Trauer transzendiert die eigenen Interessen im Hinblick auf ein übergeordnetes Gut.

Das Immaterielle lässt sich nur begreifen, wenn man die Symmetrie unseren linken und rechten Hand bedenkt. Das Immaterielle ist Abbild des Materiellen, das Sichtbare Abbild des Unsichtbaren. Ein Gedanke, den man schon bei Pascal und Montaigne findet. Grund und Figur stehen in einem ähnlichen analogen Verhältnis.

Was wir bräuchten, wäre eine Archäologie des Immateriellen und Imaginären.