FALSCHE HASEN

Foto © NASA 1972

 

Die Logik war der Glaube der Griechen. Die heutige Wissenschaft hat diesen Glauben beerbt, von daher tragen ihre einzelnen Disziplinen die Logik im Namen: Theo-logie, Bio-logie, Anthropo-logie. Es gibt daneben Kulturen, die an etwas anderes glauben oder geglaubt haben. Die Wirklichkeit ist ja – anders als man meint – gerade nicht gleichbedeutend mit dem Raum von Gründen, den die Logik stiftet. Alles, behauptet die Logik, habe seinen Grund. Aber die Liebe hat keinen Grund, ebenso die Kunst. Liebe und Kunst haben keinen Grund, sie liefern Gründe.

Wirklichkeit geht nicht in einem Rationalitätskontinuum auf, ansonsten sie ja mit der Wissenschaft homo-log wäre. Das ist ersichtlich nicht der Fall. Immerhin hat der Satz vom Grund (auf dem Logik beruht) selbst keinen Grund. Wirklichkeit besteht vielmehr aus Diskontinuitäten, aus Falten,

Wir, als konkrete lebende Wesen, sehen abends einen flammenden Sonnenuntergang. Der Physiker, der seltsamerweise nur das für wirklich und wahr hält, was er nicht sehen kann, erkennt im entflammten Sonnenuntergang nur ein Gewimmel von Atomen und elektronischen Ladungen. Darum nennen wir ihn einen Reduktionisten. Er nimmt von der Wirklichkeit etwas weg. Farben, Gerüche, Träume und Gedanken gibt es für ihn nicht. Er hält sie für Halluzinationen, für Produkte des Gehirns. Künstler, Dichter und Philosophen dagegen fügen der Wirklichkeit etwas hinzu.

Wirklichkeit ist abgründig, denn etwas ist immer äh?twas. Europa hat sich seit Beginn der Neuzeit zum Sklaven einer Rationalitätsfiktion gemacht – die sich von daher als Zivilisation bezeichnet, alle anderen aber als Naturvölker. Naturvölker haben kein Wort für Zivilisation; gleichwohl haben sie naturgemäß die Sache: Sie sind zivilisiert. Tiere und Pflanzen bilden ebenfalls Zivilisationen (im Sinn von Ordnungen) aus, auch wenn sie naturgemäß kein Wort dafür haben. Und die Infrastruktur, die jede Technik ausbildet (Autos brauchen Autobahnen, Netzwerke Strom usw.), hat keinen anderen Sinn als den, eine Welt spezifisch zu ordnen.

Entgegen dem westlichen Konzept, das die Welt manichäisch in Kultur und Natur aufteilt, gibt es Kulturen, von denen, wie der französische Ethnologe (Ethno-loge) Philippe Descola sagt, die

Organismen, die Werkzeuge, die Artefakte, die Gottheiten, die Geister, die Pflanzen und Tiere, die technischen Verfahren usw. nicht mehr einfach nur als Umfeld begriffen werden – als Ressourcen und Minen, die sich ausbeuten und nutzen lassen (TP) -, sondern als gleich berechtigte Akteure, die in gegebenen Situationen mit den Menschen agieren.

Wenn Feuer Papier verbrennt, kommuniziert es mit der Entflammbarkeit des Materials. Mit seiner Beschreibbarkeit oder Knitterbarkeit kommt Feuer dagegen gewöhnlich nicht in Kontakt. Dafür fehlt es ihm an dem entsprechenden Sensorium. Wir kommunizieren mit Papier über seine Beschreib- oder Faltbarkeit bzw. seinen ausgeprägten Hang zum Knittern. Phänomene wie Feuer, Papier, Aufzüge, Hasen oder Blumenwiesen zeigen sich uns folglich immer nur von einer bestimmten Seiten – ihrer biologischen, sensuellen, nützlichen, abstrakten, quantitativen usw. Was sie vollständig sind, zeigen uns die Phänomene nie. Nie zeigen sie sich von allen Seiten zugleich. Sie verschwinden hinter dem, was sie uns zeigen.

Die Wirklichkeit liebt es, nicht beobachtet zu werden. Sie ist scheu. Nicht nur die Bäume, auch der Rest der Wirklichkeit führt ein geheimes Leben. Wir sehen von der Wirklichkeit immer nur den Teil, der über der Oberfläche liegt. Den größten Teil bekommen wir wie bei einem Eisberg nie zu Gesicht. Es ist sogar so, dass der Eisberg unter der Wasseroberfläche im gleichen Maß wächst, wie wir von ihm oberhalb des Wasserspiegels mehr zu Gesicht bekommen. Mit jeder Bestimmung wächst das Halo der Unbestimmtheit. Das nennen wir die Bifurkation der Wirklichkeit.

Der britische Astrophysiker Arthur Stanley Eddington ist für folgende Parabel berühmt:

Ich will mit der Niederschrift dieser Vorträge beginnen und rücke meine Stühle an meine beiden Tische. Zwei Tische? Ja, denn jeder Gegenstand meiner Umgebung hat einen Doppelgänger – also zwei Tische, zwei Stühle, zwei Federn.

Es geht also um den vertrauten Tisch des Alltags auf der einen Seite und um den Tisch der Physik auf der anderen, um den uns vertrauten flammenden Sonnenuntergang und um den entflammten der Physik. Es geht um den Hasen der Biologie und um den uns vertrauten Hasen, z. B. den sogenannten falschen. Aber wie sieht der Hase für den Baum aus? Und wie für die Sonne? Denn sowohl mit der Sonne wie mit dem Baum tritt der Hase offensichtlich in Kontakt oder kann zumindest mit beiden in Kontakt treten – etwa, wenn er über eine Baum bestandene Wiese hoppelt. Wie sieht dieser dritte Hase aus, die eine weitere Seite von unendlich vielen an ihm ist. Wie kommunizieren Strömung und Fisch? Strömung und Sonnenstrahl? Der spekulative Metaphysiker Graham Harman ist in seinem Essay Der dritte Tisch für die dOCUMENTA(13) ausführlicher darauf eingegangen (100 Notizen – 100 Gedanken No. 085).

Die Welt darf nicht mit der uns bekannten und von uns erkannten Welt gleich gesetzt werden. Die Welt ist größer, viel größer als das, was wir für die Welt halten. Wer das historisch erworbene Selbstverständnis des Menschen zugunsten einer ihm äußerlichen Beschreibungsweise, wie es die Bio-logie tut, auflöst, der ist Reduktionist. Wir – Künstler, Philosophen, Dichter – fügen zu der Welt etwas hinzu. Der wirkliche Tisch und der wirkliche Hase und der wirkliche Baum sind keine Sache der Physik, der Chemie oder des Alltags. Es sind keine Sachen der Logik, aber auch keine der Sinnlichkeit, also des Geruchs, Aussehens usw. Eher sind Sachen wie der Hase oder eine Alu-Leiter Sachen für die Kunst. Die Kunst öffnet den Raum, in dem der dritte Hase gezeigt wird – jener Hase, der dem tatsächlichen weitere Seiten hinzufügt.

Die Wirklichkeit ist ein dicht gewobenes Netzwerk. Alles steht miteinander in Kontakt, nur nicht jeder mit jedem und allem. Wir stehen zu Phänomen wie dem Papier in Relation. Wenn wir die Augen schließen, ist das Papier weg. Ebenso wenn wir schlafen. Tatsächlich bleibt es auf dem Tisch. Wo ist das wirkliche Papier? Alle Seiten, die ihm zukommen, sind jedenfalls nicht in der Welt der Tatsachen versammelt. Um es mit einem verpönten Wort zu sagen: Seine Substanz entzieht sich uns. Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen Relation und Realität. Die Kunst erklärt dem toten Hasen den richtigen.

 

Erweiterte Fassung eines Textes, der zuerst als Handzettel erschien für die Ausstellung Echo of Untouched Matter (15. Januar – 20. März 2016) in der Lothringer 13 Halle in München (Kurator:Jörg Koopmann). 

https://www.thomaspalzer.de/4865-2/

 

Deleuze, Gilles Die Falte. Frankfurt am Main 1995: Suhrkamp

Harman, Graham Vierfaches Objekt. Berlin 2015: Merve

ders. Die Rache der Oberfläche. Heidegger, McLuhan, Greenberg. Köln 2015: Walther König

Heidegger, Martin Der Ursprung des Kunstwerkes in: Holzwege. Frankfurt am Main 2003: Vittorio Klostermann

Whitehead, A. N. Prozesss und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt am Main 1987: Suhrkamp

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DIE ZUKUNFT DES MARS

© NASA/JPL-Caltech/MSSS (Foto Credit)

 

SpaceX-Chef Elon Musk ist ein Visionär mit weitreichenden Ambitionen – der Ambition nämlich, seine Visionen wahr werden zu lassen. Das ist ihm mit vielem gelungen, etwa mit PayPal, SolarCity oder Tesla Motors. Musk will auch den Mars besiedeln – und um diesen auf erträgliche Temperaturen aufzuheizen, möchte er Atombomben zünden.

Unabhängig davon, wie ernst es Musk mit seinem Vorschlag ist, verrät dieser doch einen ungebrochenen, um nicht zu sagen: kindlichen Glauben an die Segnungen der Technik. Technik ist vollkommener Dienst – und wie bei jedem Dienst kann man einen schlechten oder guten Dienstherrn haben. Diese schlichte Erkenntnis wird gern geleugnet, zumal von denen, die aus Opposition lieber glauben möchten, dass eine neue Technik auch einen neuen Menschen hervorbringt. Da die Jüngeren in eine Welt hineingeboren werden, die ersichtlich nicht die ihre ist, pflegen sie einen märchenhaften Glauben an alles Neue – wobei das Neue das eigentliche Produkt ist, das von Technik hergestellt wird. Das Neue verheißt, dass wir uns Schritt für Schritt (Fortschritt) der unumschränkten Macht annähern, die uns die Welt eines Tages untertan gemacht haben wird, vollständig unserem Willen gebeugt. Am Ende wollen wir uns mithilfe der Technik selbst machen und zum buchstäblichen Selfmade-Man werden. In ihm werden wir uns endlich dort sehen, wo wir nach unserer Überzeugung hingehören: auf dem wackligen Thron Gottes.

Gewiss, in wenigen Jahren wird fast alles anders sein: was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun; wie wir produzieren und konsumieren (wenn wir das noch im heutigen Sinn tun), wie wir arbeiten, wie wir lernen und forschen – und wie wir leben.

Viele Menschen sehen in der biologischen Evolution gewissermaßen eine natürliche Form des technischen Fortschritts – ein Optimierungsprogramm, das am Ende auf die beste Version hinausläuft. Doch was ist die beste Version einer Giraffe?

Technik ist der Versuch, die Welt in eine nützliche zu verwandeln. Das griechische Wort techné umfasste ursprünglich einmal all die Fertigkeiten, die nötig sind, um ein Haus zu bauen, vorausgesetzt, das Haus war eines aus Holz. Tekton ist der Zimmermann – und der steckt bis heute im Architekten, dem archi-tekton, dem ersten und obersten der Zimmermänner.

Technik ist nützlich, aber Nützlichkeit macht aus dem Menschen keinen besseren Menschen. Auch ein Haus macht aus einem, der Hilfe verweigert, keinen, der keine Hilfe verweigert. Technik macht aus dem Menschen noch nicht einmal unbedingt einen Menschen. Auch andere Lebewesen bedienen sich bestimmter Techniken. Selbst eine zur Perfektion getriebene Technik wird den Menschen nicht sein Menschsein garantieren, geschweige dieses verbessern können. Sie kann ihm nur dienstbar sein – ganz egal, was der Mensch aus sich gemacht hat. Während der Zeit des Nationalsozialismus war die Technik avanciert, was aber die Barbarei nicht verhindert hat, im Gegenteil: Technik hat sie erst effektiv gemacht.

Der Mensch ist nicht irgendwann in seiner Evolutionsgeschichte zum Menschen geworden, um seitdem eine bestimmte Entwicklungsstufe immer schon erklommen zu haben – so, wie man immer schon über einen Rüssel verfügt, wenn die Evolution erst einmal dafür gesorgt hat, dass man einen hat. Der Mensch muss vielmehr mit jedem neuen Exemplar wieder um sein Menschsein ringen.

Die Technik ändert sich, aber der Mensch ändert sich nicht. Es genügt noch nicht einmal, dass der Mensch geboren wird, um Mensch zu sein. Ein automatisiertes Menschsein gibt es nicht. Man ist nicht einfach Mensch, bloss weil man als solcher geboren ist (und weil es einem die Ärzte gesagt haben, dass man einer wäre, was nach Judith Butler ausreichte, um einer zu sein). Menschsein ist eine Herausforderung, eine Aufgabe, ein telos. Der Mensch ist das nicht festgestellte Tier – ein Wesen der Möglichkeit und reinen Potenz.

Für das Menschsein gibt es keinen Fortschritt außer dem, Mensch geworden zu sein. Technik allein kann niemals darüber befinden, ob aus einem Menschen ein Mensch geworden ist – zumal einer, der über genau diesen Zusammenhang aufgeklärt ist.

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Empfehlung: Peter Trawny Technik Kapital Medium. Berlin 2015: Matthes & Seitz

WELTFLUCHT (SINGULARITÄT)

Warum ist dem Menschen das Immaterielle so wichtig, das bloß Vorgestellte, an die Wand gemalte, Abstrakte und Erfundene? Warum liest er Bücher, deutet Träume, erkennt Sternbilder, wo keine sind, kritzelt auf Papier und Tisch und Wände? Was ist der Vorteil, wenn wir die Welt verdoppeln?
Gerade die Musik lehrt uns jedenfalls, dass uns Immaterielles berühren kann.

Wenn jetzt feststeht, dass der Baal-Tempel in Palmyra nicht mehr existiert, ist es weniger die Anordnung der Steine, deren Auflösung wir beklagen. Wirklichkeit ist leiblich gegeben, was bedeutet, dass sie kein Raum im Sinne einer Schuhschachtel ist, in der wir und die Dinge um uns herum enthalten sind. Der Grundriss des Tempels, den uns die Satellitenbilder zeigen, markiert einen Gefühlsraum oder gestimmten Raum, also eine bestimmte oder gestimmte Wirklichkeit, die der Tempel einmal erschlossen hat. Der Baal-Tempel ist Erlebnisraum, ist gelebter Raum, und das ist er sogar noch jetzt, wo seine architektonische Form gar nicht mehr existiert. Allerdings haben sich damit die gewöhnliche Bedeutung von Drinnen und Draußen in ihr Gegenteil verkehrt: aus einem Schutzraum ist ein Raum der Zerstörung, der Feindseligkeit und der Ausgesetztheit geworden. Drinnen ist zu Draußen geworden.

Qualitäten sind unauflösbar an unseren Körper gekoppelt; als reine Daten (um mit Ray Kurzweil zu sprechen: als Singularität) wären sie eine Sache des Verstandes, der weder sehen, riechen, hören noch schmecken kann. Der Verstand kann rechnen, aber Wahrnehmung ist keine Operation des Rechnens oder Verstandes, auch wenn es gerade populär ist, dass analog zum Computer zu beschreiben, der seinerseits nichts anderes ist als eine Anhäufung von Uhren. Es ist sogar so, dass wir aufgrund der rätselhaften Symmetrie des Körpers ein gedankliches Konzept wie These und Antithese entwickelt haben. Dieses Konzept spiegelt sich in der Verkehrung unserer Hände: die rechte ist die Antithese der linken Hand und umgekehrt.

Warum bleiben wir vor einer Schwelle stehen und warten darauf, dass man uns zum Eintreten auffordert? Die Schwelle ist nicht nur ein Stück Holz, sondern auch das, was ihre Anordnung im Raum bedeutet. Für Goethe waren Farben nicht nur Farben, sondern etwas, das eine sinnlich-sittliche Bedeutung besitzt. So gilt Rot überall in Natur und Kultur als Warnfarbe. Qualitäten sind Bedeutungen. Sie sind immateriell.

Inzwischen ist das Immaterielle sogar in das Pantheon des Weltkulturerbes aufgerückt – als Handwerkstechnik, Tanz, kulturelle Praktik wie dem Yoga, als Klassifikation wie die chinesische Einteilung des Sonnenjahres in 24 Perioden oder die dreizehntägige Woche der Hopi in Arizona. Irgendwo hat Foucault vom „großen Wegschließen“ gesprochen, das unsere Epoche prägt. Und tatsächlich werden immer mehr Bilder und Gegenstände in Museen weggeschlossen, Wörter in Giftschränken, Geschichte in Gedenktagen, die Welt wird zunehmend zu einem Depot umfunktioniert.
Das pietistische Halseisen ist zurückgekommen.

Die angeblichen Zeichen sind mir gegenüber dem, was sie bezeichnen, nicht gesondert gegeben. Darum ist die Welt kein Zeichensalat, der erst gelesen oder entschlüsselt werden müsste. Die Welt ist die Summe von Empfindungen – und die Empfindung ist das Geheimnis jeder Existenz.

Würde das Immaterielle verschwinden, wären für uns Brücken, Straßen, Tore, Tempel mit einem Schlag unverständlich – wie für die Nachgeborenen das Werk einer Zivilisation, die lange schon untergegangen ist.

In meiner Jugend las ich gern Science fiction. Viele Geschichten drehten sich um Zivilisationen, die längst untergegangen waren, deren Ruinen und Reste man aber auf einem fernen Planeten entdeckt hatte. Die Lektüre löste eine namenlose Melancholie in mir aus – eine übergeordnete, gewissermaßen metaphysische Melancholie, eine, die von mir absah und auf das große Ganze zielte – und das beschäftigte mich.

Woher stammte die Trauer, die mich ergriff, als ich erfuhr, dass auf einem Planeten, den es nicht gab und von dem ich selbst dann, wenn es ihn gegeben hätte, nie die Hoffnung hätte haben können, ihn je zu erreichen, eine Zivilisation ausgestorben oder ausgerottet worden war? Darauf gibt es nur eine Antwort: Trauer vermag das anthropozentrische Denken zu übersteigen. Wenn wir trauern, geht es nicht zwangsläufig um uns. Trauer transzendiert die eigenen Interessen im Hinblick auf ein übergeordnetes Gut.

Das Immaterielle lässt sich nur begreifen, wenn man die Symmetrie unseren linken und rechten Hand bedenkt. Das Immaterielle ist Abbild des Materiellen, das Sichtbare Abbild des Unsichtbaren. Ein Gedanke, den man schon bei Pascal und Montaigne findet. Grund und Figur stehen in einem ähnlichen analogen Verhältnis.

Was wir bräuchten, wäre eine Archäologie des Immateriellen und Imaginären.

AUF DEM DACHBODEN. ÜBER DIE SEELE UND DIE LITERATUR

In jungen Jahren neigt man zur Dramatik, zur Einseitigkeit, zum Solipsismus. Gibt es da draußen jemanden, der mich versteht? Kann es das überhaupt geben? Ist das Gehirn in meinem Kopf nicht bloß ein Spezialfall des legendären Gehirns im Tank?

Wir gehören zu der Sorte Wesen, die von der Geburt bis zum Tod ununterbrochen wahrnimmt. Mit einer kleinen Besonderheit: Wir nehmen nicht nur (für) wahr, was wir wahrnehmen, sondern wir nehmen auch wahr, dass wir wahrnehmen. Aristoteles hat dieses Vermögen als Seele bezeichnet. Wahrnehmung verpflichtet zur Solidarität mit all denen, die ebenfalls wahrnehmen – mit Pflanzen, Gemüse, Tieren, Menschen. Ob Steine ein Innenleben haben, werden wir nie mit Sicherheit ausschließen können.

Wir können in Gesichtern lesen, im Ausdruck, der Mimik. In der Gestalt. Die Augen sind der Spiegel der Seele, das Antlitz der stumme Ort, an dem der Andere erscheint (Levinas). Was wir wahrnehmen: Alle Lebensformen wollen, dass ein gutes Leben geführt werden kann.

Wir sind keine Black Box, die mit einer anderen Black Box in 10 Tausend Metern Höhe über dem Meeresspiegel zusammenknallt – ohne dass die eine je einen Blick in die andere hätten werfen können. Wir können wahrnehmen, wenn ein anderer bewegt ist, wenn es einer Pflanze schlecht geht, wenn ein Tier leidet. Die Empfindung ist das Geheimnis der Existenz. Über sie erfahren wir aus der Literatur. Darum lesen wir Literatur. Sie ist Mimesis.

Mimesis bezog im Verständnis der Griechen die Tatsache mit ein, dass wir immer schon in dem Da, das wir zu sein haben, eingebettet sind. Mimesis bezog sich auf die Wirklichkeit, deren Vorzug es ist, dass sie auf den Wahrnehmenden einwirkt. Das römische Individuum machte aus der Mimesis die imitatio, und das moderne Subjekt schließlich aus der Nachahmung die Kopie. Allein an dieser sehr kurzen Übersetzungsgeschichte ließe sich ganz im Sinne Heideggers der Untergang des Abendlandes ablesen, zumindest die dramatischen Schwundstufen der Seinsgeschichte. Eine Kopie ist ein mathematisches Konstrukt, das nicht mehr in die Wirklichkeit eingebettet ist. Die Kopie bezieht sich auf den Verstand, nicht auf die Welt.

Platon hat die mimetische Darstellung von der Erkenntnis getrennt: Er glaubte an die Vorherrschaft der Vernunft und wollte die Dichter aus dem Staat jagen. Platon war Sartre, nur deutlich vorher. Dieser platonischen Erbfeindschaft der Vernunft gegen alles Mimetische haben wir es zu verdanken, dass das Gehirn an Stelle der Seele zur zentralen Instanz der Gegenwart geworden ist – Gehirn und Intelligenz.

Begriffsgeschichtlich gehören Leib und Seele zusammen. In De anima bezeichnet Aristoteles die Mitwahrnehmung der Wahrnehmung als Seele. Hegel hat das platonisch mit Bewusstsein übersetzt. Eine Seele, die den Tod des Körpers überlebt, war für Aristoteles wie für alle Griechen seiner Zeit ein Ding der Unmöglichkeit. Der Seele Unsterblichkeit einzuhauchen und vom Körper zu lösen – dieses Kunststück haben erst später die christlichen Kommentatoren vollbracht.

Für Aristoteles ist die Seele das, was den Körper spezifiziert, was ihn konkret macht (lat. concretus = mit der Erde zusammengewachsen) – zu dieser Blume, zu diesem Dalmatiner, zu diesem Menschen dort drüben im Foyer oder zu diesem Kiesel hier vor meinen Füßen. Seele ist nichts, was dem Menschen vorbehalten bliebe. Seele ist die Erfahrung des Körpers, um mit Jean-Luc Nancy zu sprechen. Unmöglich, dass einer Seele verborgen bliebe, dass sie existiert, dass sie in der Welt drinsteckt. Sie erlebt ja die Welt. Sogar im Schlaf scheint sie nicht aufzuhören zu erleben, dass sie existiert.

Es geht in der Literatur nicht so sehr um Kommunikation oder um Verstehen. Das wäre platonisch gedacht – und Platon ist bekanntlich für die Dichtung der falsche Gewährsmann. Der Denkmuskel ist nur ein Muskel. Es geht um mimetische Nachbildung. Es geht um die Gestaltung dieser je einzigartigen Empfindung, die das verkörperte Leben ist. Das Mimetische der Literatur oder, genauer, des Romans, besteht nun genau darin, dass im Erzählen die Wirklichkeit nachgebildet wird: die Tatsache nämlich, dass Zeit fließt. Das Erzählen bildet die Richtung der Zeit nach. Sein als Zeit.

Erinnern wir uns der platonischen Erbfeindschaft, um uns zu vergegenwärtigen, dass die Darstellung als eigene Erkenntnisform anerkannt werden muss – ebenso wie der Traum und vieles andere. Wir müssen den Geschichten mehr vertrauen als den Tatsachen, denn Wahrheit ist Gestalt, nicht Doktrin. Der Mensch lebt mythisch auf der Erde. Anders gesagt: Der Stoff spricht selbst. Er braucht keine Theorie (Bewusstsein im Hegelschen Sinn), die sich als Bauchredner nur immer stärker zwischen die Menschen und ihr Erleben schiebt.

Im Erleben erleben wir ja das Eingebettetsein im Da-Sein. Und das ist immer ein Mitsein. Kein Eremit bleibt Eremit, selbst wenn er einer sein sollte. Es geht um das Da, um die Mitteilung dieser Empfindung. Aber die Empfindung kommuniziert nicht.
Diese Gedanken sind inspiriert von Juan S. Guses wunderbarem Essay Sprechen über Literatur, den dieser auf hundertvierzehn.de publiziert hat, dem Blog des S. Fischer Verlages.

TRAURIGE TROPEN

Es ist schon erstaunlich: Im öffentlichen Diskurs ist die Ideologie des Kolonialismus erledigt. Wird aber gemeldet, dass irgendwo ein erdähnlicher Planet entdeckt worden ist, dann schwingt in dem Triumphgeheul, das sich daraufhin über den Köpfen der Gemeinde erhebt, mit, dass die alten Träume von der Beherrschung der Welt längst nicht ausgeträumt sind. Kepler-452b, der jüngst entdeckte Kandidat, der die Erde beerben können soll, ist einer von 500, die im vergangenen halben Jahr entdeckt worden sind. Insgesamt gibt es inzwischen knapp 5 Tausend Planeten, von denen wir annehmen, dass sie Leben tragen könnten. Und alle Nerds dieser Erde träumen davon, mit dieser Zwillingserde in Kontakt zu treten, den Planeten zu besiedeln und in ihm wie in der Erde eine Mine zu sehen – etwas, das ausgebeutet werden kann. Letztlich ist das gesamte Universum nichts anderes als ein Rohstofflieferant für unsere Bedürfnisse. Nach Ansicht der NASA ist Kepler-452b wohl 1,5 Milliarden Jahre älter als unser Planet. Eins Komma fünf Milliarden Jahre.

Was bedeutet das? Addiert man zum gegenwärtigen Stand der technisch-naturwissenschaftlichen Zivilisation eins Komma fünf Milliarden Jahre hinzu, so fragt man sich, warum die Erde nicht schon längst von den Bewohnern auf Kepler-452b besucht worden ist. Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit hätte das nahezu zwingend passieren müssen. In diesem Zeitraum hatte der Fortschritt so wahnsinnig viel Zeit, einen Schritt in die richtige Richtung zu machen und munter fortzuschreiten, dass wir einfach längst besucht worden sein müssten. Wenn nicht von den Bewohnern Kepler-452b’s, dann von irgendjemandem sonst. Selbst Außenbezirke der Milchstraße kommen dafür in Frage. Ein Mann wie Däniken hat ja gerade gezeigt, wohin es führt, wenn man die Linearität der physikalischen Zeit und den mit ihr verbundenen Fortschrittsglauben auf die geschichtliche Zeit überträgt. Ob wir annehmen, dass Gott die Erde mitsamt ihrer Fossilien geschaffen hat – oder an Däniken glauben, das folgt derselben eindimensionalen Direktive.

Nach derzeitigen Berechnungen hat der Mensch gerade mal 1,75 Millionen Jahre auf dem Buckel. In der Differenz von rund 1,498 Milliarden Jahren kann, wie wir alle wissen, einiges passieren. Und das gilt erst recht, wenn man sich vor Augen hält, dass das Universum gemäß neuesten Präzisionsmessungen 13,7 Milliarden Jahre alt ist (sind Messungen nicht immer präzise, ansonsten sie ja Schätzungen wären, aber gut). Nur, weil diese Zahl unsere Vorstellungskraft übersteigt, bemerken wir nicht die Widersprüche, in die uns die rechnenden und messenden Wissenschaften verwickeln. Der physikalische Zeithorizont ist der Nullpunkt der Geisteswissenschaften.

Warum sollte es im Universum kein Leben geben? Es gibt ja schon auf der Erde Leben neben dem unseren. Allerdings tun wir uns schwer, Leben, das anders ist als das unsere, als solches anzuerkennen. So geht die Wissenschaft etwa davon aus, dass alles Leben ähnliche biologische Voraussetzungen erfüllen muss wie das unsrige. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass alles Leben für uns nur dann Leben ist, wenn es unserem gleicht. Ein absurder Anthropozentrismus. Es gibt ja noch nicht einmal eine tragfähige (naturwissenschaftliche) Definition für Leben, d. h. wir können zwischen Leben und Nicht-Leben gar nicht sicher unterscheiden. Ebenso wenig übrigens wie zwischen Traum und Wirklichkeit. Der Traum ist nicht das Gegenteil von dem, was wirklich ist – eben nur eine Träumerei -, er ist vielmehr Teil der Wirklichkeit.

Dass wir für die Begegnung mit dem Fremden ethisch und emotional in keinster Weise gerüstet sind, dafür müssen wir nur einen Blick vor die eigene Haustür werfen. Sollte es eines Tages tatsächlich zu einem Kontakt mit extraterrestrischem Leben kommen, können wir nur hoffen, dass wir bis dahin begriffen haben, dass Leben nicht zwangsläufig genau jene Perspektive einnehmen muss, die wir einnehmen. Leben ist unabhängig davon, ob wir es als Leben anerkennen.

WER GEHT VORAUS – WAS GEHT VOR ?

Nachdem in den letzten Jahren der Begriff Kultur vollkommen entleert worden ist, weil er von der Eßkultur bis zur Badezimmer-Kultur alles umfasst, was überhaupt Artefakt ist, also nicht im Sinne der physis natürlich gewachsen, bietet sich ein Programmplatz mit Namen Kultur an, um Literatur und anderes darin unbemerkt aufgehen zu lassen, d. h. abzuschaffen. Tatsächlich gibt es im neuen Sendeschema den Programmplatz Literatur nicht mehr!

Man wird vermutlich entgegnen: Aber dafür sei die Kultur da. Doch das ist ein Kategorienfehler. Literatur ist keine Teilmenge der Kultur (zu der ja auch Kunst & Krempel gezählt wird, das Bemalen von Handtaschen und Keramiktassen und das Häkeln von Topflappen). Kultur liegt vor, Literatur deutet sie. Literatur übt in die Technik des Deutens ein, die zu den wichtigsten Kulturtechniken überhaupt gehört.

Das Bayerische Fernsehen will zum Beispiel ein sogenanntes Informationsdirektorium einführen oder hat es bereits. Viele glauben, Informationen kämen in der Welt vor wie Atome. Aber Informationen müssen zuvor gedeutet worden sein, bevor sie Informationen werden – denn alle Infos besitzen eine syntaktische Struktur. Im Kern ist jede Information ein Urteil. Deuten steckt ja in Bedeutung, und dass Informationen Bedeutung haben, dafür spricht ja die Einrichtung eines Informationsdirektoriums. Deshalb aber geht die LITERATUR der INFORMATION immer voraus! Was wir im Informationsdirektorium erwarten müssten, säßen dort Leute, die mehr lesen als Informationen der Art 30 Prozent der Jugendlichen unter 19 trinken Sonntags ein Glas Milch, wäre keine Info-Elite, sondern Menschen, die belesen sind.
Neben der Kultur (und der Abschaffung der Literatur) soll es einen eigenen Programmplatz für Philosophie und Ethik geben. Das ist begrüßenswert, denn Philosophie ist ja hilfreich, wenn es darum geht, dass nicht Fehlinvestitionen in Millionen- oder gar Milliardenhöhe geschehen, bloss weil ein Wort falsch verstanden worden ist. Oder dass Fehlentscheidungen getroffen werden wie eben jene, die Literatur abschafft, weil man sie für Kultur hält (im Sinne des Mediums).
Literatur besitzt keinen eigenen Platz mehr im Programm des Bayerischen Fernsehens. Das muss ein paarmal wiederholt werden, um sich bewusst zu werden, was das wirklich bedeutet. Es entspricht natürlich der öffentlichen Wahrnehmung, die sich nur noch mit Politik, Wirtschaft und Sport zu beschäftigen scheint. Die Gründe dafür müssen an anderer Stelle belichtet werden.
In Wahrheit ist Literatur eine Kunst des Deutens – und darum eine Kategorie eigenen Rechts, die keine Teilmenge sein kann – erst recht nicht Teilmenge einer nur noch in homöopathischen Dosen vorhandenen Kultur. Es ist die Literatur, die Europa eine Identität stiftet: nämlich die europäische Phantasie.
Deuten ist kulturelle Kompetenz schlechthin. Denn auch die Praxis der Welt besteht in nichts anderem als in der Kunst, Zeichen zu entschlüsseln.