TRAURIGE TROPEN

Es ist schon erstaunlich: Im öffentlichen Diskurs ist die Ideologie des Kolonialismus erledigt. Wird aber gemeldet, dass irgendwo ein erdähnlicher Planet entdeckt worden ist, dann schwingt in dem Triumphgeheul, das sich daraufhin über den Köpfen der Gemeinde erhebt, mit, dass die alten Träume von der Beherrschung der Welt längst nicht ausgeträumt sind. Kepler-452b, der jüngst entdeckte Kandidat, der die Erde beerben können soll, ist einer von 500, die im vergangenen halben Jahr entdeckt worden sind. Insgesamt gibt es inzwischen knapp 5 Tausend Planeten, von denen wir annehmen, dass sie Leben tragen könnten. Und alle Nerds dieser Erde träumen davon, mit dieser Zwillingserde in Kontakt zu treten, den Planeten zu besiedeln und in ihm wie in der Erde eine Mine zu sehen – etwas, das ausgebeutet werden kann. Letztlich ist das gesamte Universum nichts anderes als ein Rohstofflieferant für unsere Bedürfnisse. Nach Ansicht der NASA ist Kepler-452b wohl 1,5 Milliarden Jahre älter als unser Planet. Eins Komma fünf Milliarden Jahre.

Was bedeutet das? Addiert man zum gegenwärtigen Stand der technisch-naturwissenschaftlichen Zivilisation eins Komma fünf Milliarden Jahre hinzu, so fragt man sich, warum die Erde nicht schon längst von den Bewohnern auf Kepler-452b besucht worden ist. Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit hätte das nahezu zwingend passieren müssen. In diesem Zeitraum hatte der Fortschritt so wahnsinnig viel Zeit, einen Schritt in die richtige Richtung zu machen und munter fortzuschreiten, dass wir einfach längst besucht worden sein müssten. Wenn nicht von den Bewohnern Kepler-452b’s, dann von irgendjemandem sonst. Selbst Außenbezirke der Milchstraße kommen dafür in Frage. Ein Mann wie Däniken hat ja gerade gezeigt, wohin es führt, wenn man die Linearität der physikalischen Zeit und den mit ihr verbundenen Fortschrittsglauben auf die geschichtliche Zeit überträgt. Ob wir annehmen, dass Gott die Erde mitsamt ihrer Fossilien geschaffen hat – oder an Däniken glauben, das folgt derselben eindimensionalen Direktive.

Nach derzeitigen Berechnungen hat der Mensch gerade mal 1,75 Millionen Jahre auf dem Buckel. In der Differenz von rund 1,498 Milliarden Jahren kann, wie wir alle wissen, einiges passieren. Und das gilt erst recht, wenn man sich vor Augen hält, dass das Universum gemäß neuesten Präzisionsmessungen 13,7 Milliarden Jahre alt ist (sind Messungen nicht immer präzise, ansonsten sie ja Schätzungen wären, aber gut). Nur, weil diese Zahl unsere Vorstellungskraft übersteigt, bemerken wir nicht die Widersprüche, in die uns die rechnenden und messenden Wissenschaften verwickeln. Der physikalische Zeithorizont ist der Nullpunkt der Geisteswissenschaften.

Warum sollte es im Universum kein Leben geben? Es gibt ja schon auf der Erde Leben neben dem unseren. Allerdings tun wir uns schwer, Leben, das anders ist als das unsere, als solches anzuerkennen. So geht die Wissenschaft etwa davon aus, dass alles Leben ähnliche biologische Voraussetzungen erfüllen muss wie das unsrige. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass alles Leben für uns nur dann Leben ist, wenn es unserem gleicht. Ein absurder Anthropozentrismus. Es gibt ja noch nicht einmal eine tragfähige (naturwissenschaftliche) Definition für Leben, d. h. wir können zwischen Leben und Nicht-Leben gar nicht sicher unterscheiden. Ebenso wenig übrigens wie zwischen Traum und Wirklichkeit. Der Traum ist nicht das Gegenteil von dem, was wirklich ist – eben nur eine Träumerei -, er ist vielmehr Teil der Wirklichkeit.

Dass wir für die Begegnung mit dem Fremden ethisch und emotional in keinster Weise gerüstet sind, dafür müssen wir nur einen Blick vor die eigene Haustür werfen. Sollte es eines Tages tatsächlich zu einem Kontakt mit extraterrestrischem Leben kommen, können wir nur hoffen, dass wir bis dahin begriffen haben, dass Leben nicht zwangsläufig genau jene Perspektive einnehmen muss, die wir einnehmen. Leben ist unabhängig davon, ob wir es als Leben anerkennen.

Man muss in seinem #Kopf alles noch einmal machen. Niemals auf etwas verlassen, und das gilt natürlich auch für das #Geschriebene hier.

#Erkenntnis ist nicht #universell, nur menschliche #Erfahrung ist das.

Die #Reihenfolge der #Lebewesen ist unumkehrbar.

Wann hat der #Mensch gelernt, den #Körper als etwas wahrzunehmen, das von ihm #selbst unterschieden ist?

Sound and Vision

Es ist Ende April, halb zehn. In der Ferne das dumpfe Grollen des Pazifik. Kein Lüftchen weht, doch sind wenigstens die Temperaturen auf ein erträgliches Maß gesunken. Im Bus dagegen steht die Luft. Sara konnte ewig nicht einschlafen. Sie plärrte die ganze Zeit. Sie ist jetzt neun Monate alt, aber mit dem Geplärr wird und wird es nicht besser. Auf der Flucht vor ihm bin ich hier draußen auf dem nackten Feldbett neben dem Bus gelandet.

Eben noch klapperte Melissa mit den Töpfen. Inzwischen ist von ihr nichts mehr zu hören. Und Sara ist ebenfalls verstummt. O Wunder! Ich vermute, dass hat der Hexensaft vollbracht, von dem immer eine Notreserve im Kühlschrank ist. Kein Earth’s Best, sondern echter Guerilla-Eigenanbau. Bald nach der Geburt hat Melissa darauf bestanden, dass ich eine elektrische Milchpumpe besorge.

Wenn ich den Kopf wende, höre ich das Zirpen der Grillen, das landeinwärts die Nacht erfüllt. Als ich vorhin mit Blei in den Gliedern dalag und das Gefühl hatte, nur den kleinen Finger zu rühren wäre schon zu viel, erzeugte es in meinem Kopf ein dämonisches Muster, oszillierend und wabernd, als hätte ich meine Umgebung durch ein dickes gewölbtes Glas betrachtet.

Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, den Joint zwischen den Lippen, liege ich da und betrachte den Himmel, auch wenn es dort oben im Moment nicht viel zu sehen gibt. In mein Gesichtsfeld ragen vom Rand her die Silhouetten der Zapote-Bäume und Zedern. Dort, wo der Mond steht, sind die Wolken von hinten beleuchtet, was sie aussehen lässt wie ein großer, heller See, der zu einer anderen Welt
gehört. Durch das Gewebe der Liege hindurch spüre ich die tropische Hitze, die der Tag zurückgelassen hat und die sich zwischen mir und dem Lehmboden staut. Geduckt hockt sie direkt unter mir wie ein scheues, verängstigtes Tier und hofft darauf, dass sie nicht doch noch von der Dunkelheit gefressen wird.

Thomas Palzer Sound and Vision, S. 33

Soeben bei Luxbooks erschienen:
Gegend Entwürfe: Lesebuch für Literatur aus Rheinland-Pfalz

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Mit Ilija Trojanow, Marion Poschmann, Ken Yamamoto, Hans Joseph Ortheil, Ror Wolf, Nico Bleutge, Norbert Lange, Harald Martenstein, Nora Bossong u. a.

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Realismus in der #Literatur ist so realistisch, wie eine gemalte #Birne eine #Birne ist. Der #Begriff Baum „ist“ so wenig, wie es 17:15 Uhr „ist“.

Es gibt kein einziges #Wort, das nicht auch etwas #anderes bedeutet.

WER GEHT VORAUS – WAS GEHT VOR ?

Nachdem in den letzten Jahren der Begriff Kultur vollkommen entleert worden ist, weil er von der Eßkultur bis zur Badezimmer-Kultur alles umfasst, was überhaupt Artefakt ist, also nicht im Sinne der physis natürlich gewachsen, bietet sich ein Programmplatz mit Namen Kultur an, um Literatur und anderes darin unbemerkt aufgehen zu lassen, d. h. abzuschaffen. Tatsächlich gibt es im neuen Sendeschema den Programmplatz Literatur nicht mehr!

Man wird vermutlich entgegnen: Aber dafür sei die Kultur da. Doch das ist ein Kategorienfehler. Literatur ist keine Teilmenge der Kultur (zu der ja auch Kunst & Krempel gezählt wird, das Bemalen von Handtaschen und Keramiktassen und das Häkeln von Topflappen). Kultur liegt vor, Literatur deutet sie. Literatur übt in die Technik des Deutens ein, die zu den wichtigsten Kulturtechniken überhaupt gehört.

Das Bayerische Fernsehen will zum Beispiel ein sogenanntes Informationsdirektorium einführen oder hat es bereits. Viele glauben, Informationen kämen in der Welt vor wie Atome. Aber Informationen müssen zuvor gedeutet worden sein, bevor sie Informationen werden – denn alle Infos besitzen eine syntaktische Struktur. Im Kern ist jede Information ein Urteil. Deuten steckt ja in Bedeutung, und dass Informationen Bedeutung haben, dafür spricht ja die Einrichtung eines Informationsdirektoriums. Deshalb aber geht die LITERATUR der INFORMATION immer voraus! Was wir im Informationsdirektorium erwarten müssten, säßen dort Leute, die mehr lesen als Informationen der Art 30 Prozent der Jugendlichen unter 19 trinken Sonntags ein Glas Milch, wäre keine Info-Elite, sondern Menschen, die belesen sind.
Neben der Kultur (und der Abschaffung der Literatur) soll es einen eigenen Programmplatz für Philosophie und Ethik geben. Das ist begrüßenswert, denn Philosophie ist ja hilfreich, wenn es darum geht, dass nicht Fehlinvestitionen in Millionen- oder gar Milliardenhöhe geschehen, bloss weil ein Wort falsch verstanden worden ist. Oder dass Fehlentscheidungen getroffen werden wie eben jene, die Literatur abschafft, weil man sie für Kultur hält (im Sinne des Mediums).
Literatur besitzt keinen eigenen Platz mehr im Programm des Bayerischen Fernsehens. Das muss ein paarmal wiederholt werden, um sich bewusst zu werden, was das wirklich bedeutet. Es entspricht natürlich der öffentlichen Wahrnehmung, die sich nur noch mit Politik, Wirtschaft und Sport zu beschäftigen scheint. Die Gründe dafür müssen an anderer Stelle belichtet werden.
In Wahrheit ist Literatur eine Kunst des Deutens – und darum eine Kategorie eigenen Rechts, die keine Teilmenge sein kann – erst recht nicht Teilmenge einer nur noch in homöopathischen Dosen vorhandenen Kultur. Es ist die Literatur, die Europa eine Identität stiftet: nämlich die europäische Phantasie.
Deuten ist kulturelle Kompetenz schlechthin. Denn auch die Praxis der Welt besteht in nichts anderem als in der Kunst, Zeichen zu entschlüsseln.

Es ist falsch, #Ansprüche dadurch abzusenken, indem man auf sie #Tags wie #jung / #alt anwendet.