SPOKEN WORD

(Bildquelle: Sascha Steinach / picture alliance)

Hörspiel von Thomas Palzer und Nikolai von Koslowski

https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-hoerspiel/sprache-politik-gendern-100.html

SPOKEN WORD.

DAS ENDE DER AUFRICHTIGKEIT

Hörspiel 4. Juli 2021, WDR 3, 19:04 Uhr

Sprache ist immer schon ein Ort gewesen, der zu Auseinandersetzungen eingeladen hat – ganz egal, ob es dabei um den Gebrauch von Fremdwörtern ging, um die Rechtschreibreform oder um das Gendern. 

Schnupfen oder Rhinitis? Frau, Mann oder Monster?

Schnee von gestern. Inzwischen geht es darum, beim Sprachgebrauch niemand zurückzulassen, folglich um leichte, um gerechte Sprache. Es geht um diskriminierungsfreies Sprechen und darum, all diejenigen, die in der Sprache bislang angeblich unsichtbar gewesen sind, Sichtbarkeit zu verschaffen – zum Beispiel der Bösewichtin oder der Gästin. 

Nigger oder Nigga? Mohrenkopf, Zigeunerschnitzel und Menschen, die menstruieren? Kakophonie des Nicht-Binären.

Während in den Ghettos und Banlieues der Rap gedeiht, der die Sprache rough und ungeschönt gebraucht, um gegen Diskriminierung aufzubegehren – gedeiht in den akademischen Zirkeln das gendern – ein feinsinniger und auf Verletzlichkeit geeichter Sprachgebrauch. Ist für die einen das N-Wort Ausdruck tabuisierten Vokabulars, Ausdruck eines verbalen Safe Space – sagen die andern kurz und knallhart: Nigga. Sie betreiben kulturelle Anverwandlung und machen sich das N-Wort zu eigen.

Es geht um Macht. Was gesetzt ist, muss durchgesetzt werden.

Ist Sprache nicht selbst Rhetorik? Hat es eine Zeit, in der verbum und res eins waren, Wort und Sache, je gegeben? Wer glaubt, dass Worte Kräfte des Bösen und Guten in sich tragen und die, die sie verwenden, damit kontaminierten, hat Anteil am Restbestand voraufgeklärten, magischen Denkens. Du musst verstehn, aus Eins mach‘ zehn und Zwei lass gehen.

Futur Perfekt

Ich sage: Sackgassen, Satellitenschüsseln, Kreisel. Glasbausteine.
Wird es auch in Zukunft geben.
In der nächsten und übernächsten Generation.
An der Stirn der Doppelgaragen: Basketballkörbe.
Wird es geben.
Kopfsteinpflaster: wird es geben, Ungeschicklichkeit und Namensschilder.
Krawall, Fehlplanung, Monitoring.
Kofferbomber. Langeweile.
It-Bags.
Auch die Peripherie wird Bestand haben. Die Banlieue. Der Dreck.
Wird, wie überall, überall sein.
Wasser wird dagegen nur rationiert ausgegeben.
An öffentlichen Brunnen.
Und in Supermärkten. Aber die wird es nicht mehr geben.
Stattdessen: Riesige Brühwürfel. Auch in den engen Gassen der Altstadt.
Siehst Du sie auch?
Falls Du hundert Jahre alt wirst, wirst Du sie sehen.

Futur Perfekt. Hörspiel von und mit Thomas Palzer / BR 2010 / Länge: 6’13 //

© Annette Hempfling

Die Redaktion Hörspiel und Medienkunst lud 17 zeitgenössische deutschsprachige Autorinnen und Autoren ein, sich dem Alltag der übernächsten Generation zu widmen und ein Bild von Deutschland und der Welt in rund 80 Jahren zu entwerfen.

Deutschland 2089 -: 17 Szenarien aus der Zukunft – Von Georg M. Oswald, Thomas Pletzinger, Thomas Palzer, Françoise Cactus u.v.a.
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Das Hörspiel ist ursprünglich aus einem Text hervorgegangen, der für ein Projekt des Fotografen Thomas Dashuber konzipiert war:

Endstation. Bilder vom Rand der Großstadt
Thomas Dashuber hat die Endstationen der Münchner U-Bahnlinien bereist und eine Szenerie festgehalten, die man so gar nicht mit mit dem blankpolierten München verbindet. Eine Audioslideshow.
Thomas Palzer hat für die Audioslideshow auf sueddeutsche.de einen Essay über die Vorstadt geschrieben, der Dashubers Bilder stimmungsvoll untermalt. Sehen Sie selbst!

FUTUR PERFEKT

http://Thomas Palzer / BR 2010 / Länge: 6’13 // Die Redaktion Hörspiel und Medienkunst lud 17 zeitgenössische deutschsprachige Autorinnen und Autoren ein, sich dem Alltag der übernächsten Generation zu widmen und ein Bild von Deutschland und der Welt in rund 80 Jahren zu entwerfen.

© Thomas Palzer / BR 2010 / Länge: 6’13 //

Die Redaktion Hörspiel und Medienkunst lud 17 zeitgenössische deutschsprachige Autorinnen und Autoren ein, sich dem Alltag der übernächsten Generation zu widmen und ein Bild von Deutschland und der Welt in rund 80 Jahren zu entwerfen.

ARCANA EINS:

ZUKUNFT WIRD GEWESEN SEIN

– Ein Spiel: Mach die Augen zu und sag was. Sag, was Du

siehst. Sag? Sag irgendwas. Augen zu und sag was.

– Ich schließe die Augen. Ich sehe nichts. Es ist schwarz.

Nacht. Gestalten. Ich sehe Lichter. Eine Universität. Ich

laufe durch menschenleere Flure. Ich sehe zwei Studentinnen

in einem noch leeren Vorlesungssaal Geheimnisse austauschen.

Sie reden über die Zukunft. Was aus ihnen werden soll. Wie

sie sich ihr Leben vorstellen. Wie es werden wird. Falls es

wäre.

ARCANA ZWEI:

GEGENWART WIRD IN DER ZUKUNFT ZUM TRAGEN GEBRACHT WORDEN

SEIN

Einer sagt: Die Flüsse werden über die Ufer treten und

Inseln verschwinden. Ein anderer: Europa wird weiter Rich-

tung Osten schmelzen. Mancher: Das Mittelalter wird zurück-

kehren. Nur sehr wenige werden in Zukunft lesen und

schreiben können.

Mönche, Minderheiten, Majuskeln.

Sagt einer.

Ich sage:

Sackgassen, Satellitenschüsseln, Kreisel. Glasbausteine.

Wird es auch in Zukunft geben.

In der nächsten und übernächsten Generation.

An der Stirn der Doppelgaragen: Basketballkörbe.

Wird es geben.

Kopfsteinpflaster: wird es geben, Ungeschicklichkeit und

Namensschilder.

Krawall, Fehlplanung, Monitoring.

Kofferbomber.

Langeweile.

It-Bags.

Dreck.

Auch die Peripherie wird Bestand haben. Die Banlieue. Der

Wird, wie überall, überall sein.

Wasser wird dagegen nur rationiert ausgegeben.

An öffentlichen Brunnen.

Und in Supermärkten. Aber die wird es nicht mehr geben.

Stattdessen: Riesige Brühwürfel. Auch in den engen Gassen

der Altstadt.

Siehst Du sie auch?

Falls Du hundert Jahre alt wirst, wirst Du sie sehen.

Zerwürfnisse wird es geben, Ermüdung und strahlende

Sieger.

Lose, Lotterien, Lotto.

Zusammengehalten von Lassoband.

Constanzes wird es geben, bin ich sicher.

Völkerwanderungen.

Mehrheitsbeschlüsse.

Ungesüßtes Obst.

Nicht mehr geben wird es Stadtverwaltungen, von ihrem

Vorrecht Gebrauch machend, Straßen und Plätze der

Trabantenstädte (hier: Weilheim, Neuenhagen und Kelsterbach)

in ein Sterberegister der Lokalpolitik zu verwandeln, der

vergangenen Kämmerer, Einpfleger, Fahrscheinkontrolleure und

Lokalasservatoren.

Evangelische Messen – wird es geben.

Keine Beichten, kein Tierfutter,

Bürgermeister, Finanzinspektoren, Oberregierungsräte und

andere Vertreter der höheren Besoldungsgruppen –

abgeschafft.

Henker wird es noch geben.

Steckdosen wird es geben.

Kein Facebook.

Falls wir hundert oder gar hundert fünfzig Jahre alt

werden, werden wir ohne Facebook auskommen müssen.

Kleine Horden verwilderter Alter, denen die Jungen die

Rente gepfändet haben, werden durch die Ruinen der

Biotech-Fabriken ziehen – Ruinen, die den Übergang von der

Stadt zum Land (hier: Weilheim, Neuenhagen und Kelsterbach)

markieren – neben hochgeistig-gelben Rapsfeldern,

Wertstoffhöfen, in bunten Scherben badenden

Altglascontainern, ausrangierten Fernsehsendern und debilen

Möbelhäusern.

Die Reihenhaus-Kolonien werden verwaist sein und beim

Anflug geplünderten Vogelnestern gleichen. Nicht einmal

Werbung wird hier durch die Türschlitze geworfen werden

wollen.

Werden wollen.

Politik? An den Küsten Pakistans abgewrackt.

Der Blödsinn des Kämmens – erkannt.

Kunst wird diktieren. Poeten werden auf den Thronen

türmen.

Man wird frei durchatmen können.

Was kriechen wird, ist das Volk, der Schwarm, die

Struktur.

Plebs, Mob.

Unterschichten.

Davon wird man nichts kaufen können.

Der Rest wird sich den schönen Dingen zuwenden.

Dem Volltanken, Sattfressen, Videos schlucken.

Teppichstangen, an denen Menschen hängen, die sich erhängt

haben. Wird ihr Geheimnis bleiben.

Argumentenbäume. Perspektivisch verkürzt drehen sich die

Toten an den Ästen wie in einem magischen Spiegel.

Immer der Nase nach.

Mein himmlisches Kind.

Hörst Du den Wind auch?

Du wirst ihn hören.

Russische Puppen wird es noch geben, aber die Russen sind,

falls Du hundert Jahre alt wirst, längst weggezogen. Der

Krieg ist lange her.

Dazwischen dann immer mal wieder Schaukästen mit

herabgelassenen Jalousien oder leere Pappschilder, auf denen

vor Jahrzehnten (Jahrhunderten?) Wahlplakate klebten und die

nun, nach langen Jahren der Nutzlosigkeit, den

Laternenmasten aus Langeweile in die Zange nehmen.

Seltsame Welt hinter der Kante der Gegenwart.

Nähert sich aber, nähert sich.

Seit Jahren leben wir dort – über den Bergen, jenseits den

Zwergen – in Wohnwagen. Uns geht es nicht schlecht. Etwas

mühsam das tägliche Wasser holen am Markt.

Überall stinken vergammelte Podcasts zum Himmel.

Vom Rückfenster aus sehe ich, den Kopf von der fleckigen

Matratze hebend, über den Soldatenfriedhof auf eine ferne

Hollywoodschaukel.

Hollywoodschaukel.

Vielleicht werde ich sie mir näher ansehen.

In fünfzig oder hundert Jahren.

Ein Vorhängeschloss, das verhindern soll, dass man sie

stiehlt. Dabei lebt in dieser Gegend kaum einer mehr. Und

wie es aussieht, wird auch nie wieder einer herkommen

wollen.

Werden wollen.

Hollywoodschaukeln werden schaukeln bleiben.

ARCANA DREI:

ZUKUNFT WIRD GEGENWART GEWESEN SEIN

Aus Sozialpolitik wird keine Politik!

Rentner, dass es kracht.

Überall Hochwasser.

Berge des Wahnsinns.

Der Wind pfeift durch die Ritzen.

Deutschland war einmal.

Du wirst es nicht sein.

Berlin – dreigeteilt: Eins für die Punks, eins für die

Erben von Joop, eins für die Kassen.

Vorwände gibt es nicht mehr.

Lügen, Verdrehungen, faule Amtsgeheimnisse – das ist das

Tagesgeschäft.

Tagesgeschäfte – abgeschafft.

Die Renaissance? Abgedankt. Kein Mensch nirgends.

Was es gibt, gibt der Staat.

Strom für alle.

Rente bis 130 (Richtgeschwindigkeit).

Care-Pakete.

Notgroschen – und das nicht zu knapp!

Flatrate. Langsam abzustottern.

Daneben werden sich sämtliche Türen in die Gegenrichtung

öffnen lassen müssen.

Metaphysik wird in kleinen, nummerierten (entmagneti-

sierten) Münzen ausbezahlt.

Ganz sicher wird man in Fahrtrichtung aussteigen werden.

Arschgeweih hochhalten.

Gründe werden reihenweise absaufen.

Philosophie wird nicht mehr helfen.

Nicht Chemie, Notfallchirurgie, Blasphemie.

Die Zukunft wird RUHMVOLL oder sie wird nicht sein.

Elefantenrunden, Rucksackbomber, Castingshows.

Die werden nicht aufgeben.

In jeder Ecke: Parallelgesellschaften.

Alle werden über alle regieren – ein hübsches Chaos.

Ach.

O weh.

Futur zwei.

Eins.

Meinten sie

AUS

VIER:

ORAKEL

– Ein Spiel: Schließe die Augen und sag, was Du siehst, Sag.

– Ich sehe einen Tennisball.

Eine Zeit lang läuft er über die Netzkante, ohne zu er-

kennen zu geben, auf welche Spielfeldseite er schließlich

fallen wird.

Dass die Zeit viel mehr Dimensionen besitzt als ein

Tennisball, macht sie zu keinem.