Mehr als nur ein Ärgernis. Über den Nutzen der Metaphysik für das Leben

Sonntag, 15. 3., um 9 Uhr 30 im Deutschlandfunk:

Eine gewisse Stilart des Imaginären nennen wir Metaphysik. Dem philosophischen Establishment gilt sie als Ärgernis, mindestens aber als überholte Form philosophischen Denkens, deren letzter Höhepunkt mit Fichte, Hegel und Schelling erreicht worden ist. Metaphysik löst keine Fragen – statt Lösungen hat sie nur eine lange Geschichte anzubieten. Anhand dieser wird allerdings klar, was auf dem Spiel steht, wenn man sie aus dem philosophischen Gespräch entfernt.

Metaphysik liegt im Interesse des Menschen – jedes Menschen. Es geht um letzte Fragen, um den Sinn des Ganzen, den Zusammenhang, um unser Woher und Wohin. Dass sie in Misskredit geraten ist, liegt am Positivismus, der metaphysische Sätze für sinnlos erklärt. Das missachtet den Umstand, dass es einen Erkenntnispluralismus gibt – es geht nicht nur darum, was der Fall ist, sondern auch darum, wie es ist oder wäre, wenn man sich in einer solchen Situation befände. Es geht um Vergegenwärtigung.

Metaphysik muss, um Metaphysik zu sein, die Kritik mitdenken. Dem rein logizistischen Denken ist die Sache oft genug bloß störender Inhalt. Auch der härteste philosophische Begriff beruht aber auf einer Metapher, d. h. auf einem Bild – das ist die Pointe, deren sich der Positivismus nicht bewusst ist.

Die erschließende Kraft des Denkens reicht unendlich viel weiter als die beweisende Kraft des Wissens. Neben Präzision gibt es Prägnanz – und der geht es eben um den Zusammenhang des Ganzen.

WELTFLUCHT (SINGULARITÄT)

Warum ist dem Menschen das Immaterielle so wichtig, das bloß Vorgestellte, an die Wand gemalte, Abstrakte und Erfundene? Warum liest er Bücher, deutet Träume, erkennt Sternbilder, wo keine sind, kritzelt auf Papier und Tisch und Wände? Was ist der Vorteil, wenn wir die Welt verdoppeln?
Gerade die Musik lehrt uns jedenfalls, dass uns Immaterielles berühren kann.

Wenn jetzt feststeht, dass der Baal-Tempel in Palmyra nicht mehr existiert, ist es weniger die Anordnung der Steine, deren Auflösung wir beklagen. Wirklichkeit ist leiblich gegeben, was bedeutet, dass sie kein Raum im Sinne einer Schuhschachtel ist, in der wir und die Dinge um uns herum enthalten sind. Der Grundriss des Tempels, den uns die Satellitenbilder zeigen, markiert einen Gefühlsraum oder gestimmten Raum, also eine bestimmte oder gestimmte Wirklichkeit, die der Tempel einmal erschlossen hat. Der Baal-Tempel ist Erlebnisraum, ist gelebter Raum, und das ist er sogar noch jetzt, wo seine architektonische Form gar nicht mehr existiert. Allerdings haben sich damit die gewöhnliche Bedeutung von Drinnen und Draußen in ihr Gegenteil verkehrt: aus einem Schutzraum ist ein Raum der Zerstörung, der Feindseligkeit und der Ausgesetztheit geworden. Drinnen ist zu Draußen geworden.

Qualitäten sind unauflösbar an unseren Körper gekoppelt; als reine Daten (um mit Ray Kurzweil zu sprechen: als Singularität) wären sie eine Sache des Verstandes, der weder sehen, riechen, hören noch schmecken kann. Der Verstand kann rechnen, aber Wahrnehmung ist keine Operation des Rechnens oder Verstandes, auch wenn es gerade populär ist, dass analog zum Computer zu beschreiben, der seinerseits nichts anderes ist als eine Anhäufung von Uhren. Es ist sogar so, dass wir aufgrund der rätselhaften Symmetrie des Körpers ein gedankliches Konzept wie These und Antithese entwickelt haben. Dieses Konzept spiegelt sich in der Verkehrung unserer Hände: die rechte ist die Antithese der linken Hand und umgekehrt.

Warum bleiben wir vor einer Schwelle stehen und warten darauf, dass man uns zum Eintreten auffordert? Die Schwelle ist nicht nur ein Stück Holz, sondern auch das, was ihre Anordnung im Raum bedeutet. Für Goethe waren Farben nicht nur Farben, sondern etwas, das eine sinnlich-sittliche Bedeutung besitzt. So gilt Rot überall in Natur und Kultur als Warnfarbe. Qualitäten sind Bedeutungen. Sie sind immateriell.

Inzwischen ist das Immaterielle sogar in das Pantheon des Weltkulturerbes aufgerückt – als Handwerkstechnik, Tanz, kulturelle Praktik wie dem Yoga, als Klassifikation wie die chinesische Einteilung des Sonnenjahres in 24 Perioden oder die dreizehntägige Woche der Hopi in Arizona. Irgendwo hat Foucault vom „großen Wegschließen“ gesprochen, das unsere Epoche prägt. Und tatsächlich werden immer mehr Bilder und Gegenstände in Museen weggeschlossen, Wörter in Giftschränken, Geschichte in Gedenktagen, die Welt wird zunehmend zu einem Depot umfunktioniert.
Das pietistische Halseisen ist zurückgekommen.

Die angeblichen Zeichen sind mir gegenüber dem, was sie bezeichnen, nicht gesondert gegeben. Darum ist die Welt kein Zeichensalat, der erst gelesen oder entschlüsselt werden müsste. Die Welt ist die Summe von Empfindungen – und die Empfindung ist das Geheimnis jeder Existenz.

Würde das Immaterielle verschwinden, wären für uns Brücken, Straßen, Tore, Tempel mit einem Schlag unverständlich – wie für die Nachgeborenen das Werk einer Zivilisation, die lange schon untergegangen ist.

In meiner Jugend las ich gern Science fiction. Viele Geschichten drehten sich um Zivilisationen, die längst untergegangen waren, deren Ruinen und Reste man aber auf einem fernen Planeten entdeckt hatte. Die Lektüre löste eine namenlose Melancholie in mir aus – eine übergeordnete, gewissermaßen metaphysische Melancholie, eine, die von mir absah und auf das große Ganze zielte – und das beschäftigte mich.

Woher stammte die Trauer, die mich ergriff, als ich erfuhr, dass auf einem Planeten, den es nicht gab und von dem ich selbst dann, wenn es ihn gegeben hätte, nie die Hoffnung hätte haben können, ihn je zu erreichen, eine Zivilisation ausgestorben oder ausgerottet worden war? Darauf gibt es nur eine Antwort: Trauer vermag das anthropozentrische Denken zu übersteigen. Wenn wir trauern, geht es nicht zwangsläufig um uns. Trauer transzendiert die eigenen Interessen im Hinblick auf ein übergeordnetes Gut.

Das Immaterielle lässt sich nur begreifen, wenn man die Symmetrie unseren linken und rechten Hand bedenkt. Das Immaterielle ist Abbild des Materiellen, das Sichtbare Abbild des Unsichtbaren. Ein Gedanke, den man schon bei Pascal und Montaigne findet. Grund und Figur stehen in einem ähnlichen analogen Verhältnis.

Was wir bräuchten, wäre eine Archäologie des Immateriellen und Imaginären.