Nachtwärts

Thomas Palzer Nachtwärts

Sie saßen am Fenster, einander gegenüber, jeder vor dem Schmetterlingstisch, den man aus der Armlehne hervorklappen konnte. Nach einem uneinsichtigen Plan hatten sie verschiedene Gegenstände darauf ausgebreitet, vor allem ausreichend Lektüre und natürlich Lakritzschnecken, die ohne die Bücher keinen Sinn ergaben. Beide waren sie manische Leser. Wie die meisten von uns wurden sie vom Sichtbaren nicht zufriedengestellt.

Der Münchner Autor und Filmemacher Thomas Palzer verarbeitet in seinem neuen Roman “Nachtwärts” seine ganz persönliche Leerfahrt. Das gespenstische Gefühl, in einem leeren Zug zu sitzen, ohne dessen Ziel zu kennen, hat er vor einigen Jahren selbst erlebt. Hoch sensibel für die Gefühle und Ängste Heranwachsender, verbindet Palzer diese Begebenheit mit einer leider alltäglichen Familiengeschichte. Es ist die Erzählung vernachlässigter Kinder, die nach Liebe schreien, indem sie sich entziehen – oder, wie in diesem Fall, selbst entführen. Mit der verbotenen Liebe, die Finn zu ihrem Entführer aufbaut, behandelt der Autor aber noch eine weitere Ebene, die nicht dem naheliegenden Stockholm-Syndrom folgt. Es geht vielmehr um die konfliktreiche Emanzipation der Tochter von ihrem Vater und die Entdeckung der eigenen Sexualität.

Im Juni 2014 auf Platz 2 der SWR Bestenliste

Eine besonders perfide, albtraumhafte Ausgangssituation hat sich auch Thomas Palzer, der in München lebende Schriftsteller und Filmemacher, ausgedacht. In Nachtwärts erzählt er von einer Entführung, die sich die Hauptperson seines neuesten Romans ausgedacht und geplant hat – für sich selbst. Allerdings sollte jeder, der so etwas vorhat, sich seinen Überltäter vorab lieber ganz genau auswählen.

Stefan Weiss am 27. 02. 2014 in derSüddeutschen Zeitung

Thomas Palzer pflegt einen bedachtsamen Erzählstil mit bewundernswerter Detailsorgfalt. Unterwandert wird der Fortgang von vielschichtigen Erinnerungen, kurzen Anekdoten und abenteuerlichen Träumen. Paralysierende Halluzinationen werden gegen die Realität in Stellung gebracht … Manchmal erzählen erdachte Figuren etwas über die Wirklichkeit, das die realen Menschenkinder nicht auszusprechen wagen. Wie die Akteure im Nachtwärts-Drama. Für das Geschwisterpaar wird der Roman zur Initiation, auch der sexuellen. Für die Erwachsenen zu “einer Reise ins Unbekannte, ins Herz der Finsternis, in das, was nicht ausgeleuchtet ist”. So endet der Roman in einer erschütternden Generalbeichte. Palzers Sprachkamera zeigt Gedanken und Gefühle in Großaufnahme. Mitunter sehnt man sich nach einem Buch wie diesem, das anmacht, weil es ungekünstelt und unwiderstehlich ist. Auch weil es noch dazu eine sinnstiftende Weisheit spiegelt: Solange du lebst, wirst du dich nie von dir selber trennen können.

IN München 4/2014

Es gibt noch einen Fahrgast, einen professionellem Schwarzfahrer und Opiumhändler, der sich Prinz nennt. Solche Leerfahrten der Deutschen Bahn gibt es wirklich. Als Thomas Palzer davon hörte, beschloss er eine neue Version seines Lieblingsbuches Kinder der Nacht von Jean Cocteau zu schreiben und sie auf diese fantastische Fahrt zu schicken. „Kinder erleben eine Welt auf ihre Weise, die oft völlig von der Erwachsenenwelt abgeschlossen ist“, so der gutaussehende Münchner Autor, ein gelernter Philosoph und Filmemacher. Laurens, seine Schwester Finn (von Josephine), eine Anspielung auf Huckleberry Finn, und der geheimnisvolle Prinz fassen den Plan, eine Entführung vorzutäuschen und den Reeder zu erpressen. Sie fahren nach Wien und rauchen Opium. „Der Tschandu verändert die Wahrnehmung. Alles erscheint überhell, extrem scharf, gesteigert. Es ist ein merkwürdiger, zwitterhafter und äußerst tyrannischer, der von ihr Besitz ergriffen hatte, ein Zustand, der einerseits der ihre war, andererseits aber das Außen um sie herum betraf, als spalte ein tiefer Riss die Welt.“ Die Geschichte ist in solchen, hier zufälligerweise ausgesuchten, schönen, geraden Sätzen erzählt. Absolut lesenswert.

Heinz Neidel am 2. Juni 2014 in denNürnberger Nachrichten

Nachtwärts fängt mit einem bestechenden Plot an, ein bisschen ist man in einer Tschick-ähnlichen Geschichte drin. Doch was Thomas Palzer aus der Irrfahrt zweier jugendlicher Geschwister macht, die aus Versehen (?) in einem leeren Zug landen, der sie nicht wie beabsichtigt nach Paris, sondern via München nach Wien bringt, geht in eine andere Dimension. Verrat, Initiation, Misstrauen und Unsicherheit prägen den Fortgang der dunklen und unheilvollen Geschichte, angereichert noch durch schräge Gestalten und bizarre locations – ein überraschendes Leseerlebnis. Eine Entdeckung!

Fräulein Magazine

Einfühlsam, nachvollziehbar und offen erzählt Thomas Palzer in Nachtwärts aus der Sicht zweier Jugendlicher, denen es im Leben an nichts fehlt und doch an so vielem. Spannend wie ein Krimi liest man über den undurchsichtigen „Prinzen”, die Gefühle der Geschwister und die Probleme des Reeders. In häufig wechselnden Perspektiven erhält man ein vollständiges Bild der Situation. Aus der Nebenfigur Finn wird schließlich die zentrale Figur, die sich vom Vater löst, indem sie sich einen Ersatz für ihn sucht. Nachtwärts ist eine gleichzeitig spannende und sensible Geschichte über das Erwachsenwerden und die Schwierigkeiten von Jugendlichen, die trotz aller Möglichkeiten, die ihnen offen stehen, dennoch auf sich selbst gestellt sind.

Bücherpunkt Blaubeuren

Leselink

Nachtwärts Thomas Palzer

Literaturportal Bayern
Im Gespräch mit Fridolin Schley: der Schriftsteller Thomas Palzer
Über Realität