Die lange der Nacht der Philosophie München: Vortrag und Gespräch: Was ist Philosophie?

Lange Nacht der Philosophie

Die UNESCO-Generalkonferenz 2005 erklärte den dritten Donnerstag im November zum Welttag der Philosophie, indem sie daran erinnerte, „dass Philosophie als Disziplin zum kritischen und unabhängigen Denken ermutigt und auf ein besseres Verständnis der Welt hinwirken und Toleranz und Frieden fördern kann. Der Welttag soll der Philosophie zu grösserer Anerkennung verhelfen und ihr und der philosophischen Lehre Auftrieb verleihen“.

Vortrag und Gespräch:

15. 11. 2018

15:30 Uhr

EineWeltHaus

Schwanthalerstr. 80

80336 München

EG in der Werkstatt

Philosophie – das ist immer der Philosoph, denn philosophisches Denken lässt sich beschreiben als Befähigung, den Weltbezug frei zu gestalten.

In den vergangenen Jahrzehnten waren es, um nur die Prominenz zu nennen, Heidegger, Derrida, Deleuze und Guattari, die die Frage nach der Philosophie gestellt und je verschieden beantwortet haben.

Was ist Philosophie?

Thomas Palzer ist ein deutscher Autor, Journalist, Schriftsteller, Filmemacher und Hörfunksprecher, auch seiner eigenen Texte.  Er studierte in München und Wien Philosophie und Germanistik. Mitte der 1980er Jahre begann er seine publizistische Arbeit beim „Zündfunk“ im Hörfunk des Bayerischen Rundfunks.

Aktuell hat Thomas Palzer eine künstlerische Gastprofessur im Literaturinstitut in Leipzig inne.

WELTFLUCHT (SINGULARITÄT)

Warum ist dem Menschen das Immaterielle so wichtig, das bloß Vorgestellte, an die Wand gemalte, Abstrakte und Erfundene? Warum liest er Bücher, deutet Träume, erkennt Sternbilder, wo keine sind, kritzelt auf Papier und Tisch und Wände? Was ist der Vorteil, wenn wir die Welt verdoppeln?
Gerade die Musik lehrt uns jedenfalls, dass uns Immaterielles berühren kann.

Wenn jetzt feststeht, dass der Baal-Tempel in Palmyra nicht mehr existiert, ist es weniger die Anordnung der Steine, deren Auflösung wir beklagen. Wirklichkeit ist leiblich gegeben, was bedeutet, dass sie kein Raum im Sinne einer Schuhschachtel ist, in der wir und die Dinge um uns herum enthalten sind. Der Grundriss des Tempels, den uns die Satellitenbilder zeigen, markiert einen Gefühlsraum oder gestimmten Raum, also eine bestimmte oder gestimmte Wirklichkeit, die der Tempel einmal erschlossen hat. Der Baal-Tempel ist Erlebnisraum, ist gelebter Raum, und das ist er sogar noch jetzt, wo seine architektonische Form gar nicht mehr existiert. Allerdings haben sich damit die gewöhnliche Bedeutung von Drinnen und Draußen in ihr Gegenteil verkehrt: aus einem Schutzraum ist ein Raum der Zerstörung, der Feindseligkeit und der Ausgesetztheit geworden. Drinnen ist zu Draußen geworden.

Qualitäten sind unauflösbar an unseren Körper gekoppelt; als reine Daten (um mit Ray Kurzweil zu sprechen: als Singularität) wären sie eine Sache des Verstandes, der weder sehen, riechen, hören noch schmecken kann. Der Verstand kann rechnen, aber Wahrnehmung ist keine Operation des Rechnens oder Verstandes, auch wenn es gerade populär ist, dass analog zum Computer zu beschreiben, der seinerseits nichts anderes ist als eine Anhäufung von Uhren. Es ist sogar so, dass wir aufgrund der rätselhaften Symmetrie des Körpers ein gedankliches Konzept wie These und Antithese entwickelt haben. Dieses Konzept spiegelt sich in der Verkehrung unserer Hände: die rechte ist die Antithese der linken Hand und umgekehrt.

Warum bleiben wir vor einer Schwelle stehen und warten darauf, dass man uns zum Eintreten auffordert? Die Schwelle ist nicht nur ein Stück Holz, sondern auch das, was ihre Anordnung im Raum bedeutet. Für Goethe waren Farben nicht nur Farben, sondern etwas, das eine sinnlich-sittliche Bedeutung besitzt. So gilt Rot überall in Natur und Kultur als Warnfarbe. Qualitäten sind Bedeutungen. Sie sind immateriell.

Inzwischen ist das Immaterielle sogar in das Pantheon des Weltkulturerbes aufgerückt – als Handwerkstechnik, Tanz, kulturelle Praktik wie dem Yoga, als Klassifikation wie die chinesische Einteilung des Sonnenjahres in 24 Perioden oder die dreizehntägige Woche der Hopi in Arizona. Irgendwo hat Foucault vom „großen Wegschließen“ gesprochen, das unsere Epoche prägt. Und tatsächlich werden immer mehr Bilder und Gegenstände in Museen weggeschlossen, Wörter in Giftschränken, Geschichte in Gedenktagen, die Welt wird zunehmend zu einem Depot umfunktioniert.
Das pietistische Halseisen ist zurückgekommen.

Die angeblichen Zeichen sind mir gegenüber dem, was sie bezeichnen, nicht gesondert gegeben. Darum ist die Welt kein Zeichensalat, der erst gelesen oder entschlüsselt werden müsste. Die Welt ist die Summe von Empfindungen – und die Empfindung ist das Geheimnis jeder Existenz.

Würde das Immaterielle verschwinden, wären für uns Brücken, Straßen, Tore, Tempel mit einem Schlag unverständlich – wie für die Nachgeborenen das Werk einer Zivilisation, die lange schon untergegangen ist.

In meiner Jugend las ich gern Science fiction. Viele Geschichten drehten sich um Zivilisationen, die längst untergegangen waren, deren Ruinen und Reste man aber auf einem fernen Planeten entdeckt hatte. Die Lektüre löste eine namenlose Melancholie in mir aus – eine übergeordnete, gewissermaßen metaphysische Melancholie, eine, die von mir absah und auf das große Ganze zielte – und das beschäftigte mich.

Woher stammte die Trauer, die mich ergriff, als ich erfuhr, dass auf einem Planeten, den es nicht gab und von dem ich selbst dann, wenn es ihn gegeben hätte, nie die Hoffnung hätte haben können, ihn je zu erreichen, eine Zivilisation ausgestorben oder ausgerottet worden war? Darauf gibt es nur eine Antwort: Trauer vermag das anthropozentrische Denken zu übersteigen. Wenn wir trauern, geht es nicht zwangsläufig um uns. Trauer transzendiert die eigenen Interessen im Hinblick auf ein übergeordnetes Gut.

Das Immaterielle lässt sich nur begreifen, wenn man die Symmetrie unseren linken und rechten Hand bedenkt. Das Immaterielle ist Abbild des Materiellen, das Sichtbare Abbild des Unsichtbaren. Ein Gedanke, den man schon bei Pascal und Montaigne findet. Grund und Figur stehen in einem ähnlichen analogen Verhältnis.

Was wir bräuchten, wäre eine Archäologie des Immateriellen und Imaginären.

AUF DEM DACHBODEN. ÜBER DIE SEELE UND DIE LITERATUR

In jungen Jahren neigt man zur Dramatik, zur Einseitigkeit, zum Solipsismus. Gibt es da draußen jemanden, der mich versteht? Kann es das überhaupt geben? Ist das Gehirn in meinem Kopf nicht bloß ein Spezialfall des legendären Gehirns im Tank?

Wir gehören zu der Sorte Wesen, die von der Geburt bis zum Tod ununterbrochen wahrnimmt. Mit einer kleinen Besonderheit: Wir nehmen nicht nur (für) wahr, was wir wahrnehmen, sondern wir nehmen auch wahr, dass wir wahrnehmen. Aristoteles hat dieses Vermögen als Seele bezeichnet. Wahrnehmung verpflichtet zur Solidarität mit all denen, die ebenfalls wahrnehmen – mit Pflanzen, Gemüse, Tieren, Menschen. Ob Steine ein Innenleben haben, werden wir nie mit Sicherheit ausschließen können.

Wir können in Gesichtern lesen, im Ausdruck, der Mimik. In der Gestalt. Die Augen sind der Spiegel der Seele, das Antlitz der stumme Ort, an dem der Andere erscheint (Levinas). Was wir wahrnehmen: Alle Lebensformen wollen, dass ein gutes Leben geführt werden kann.

Wir sind keine Black Box, die mit einer anderen Black Box in 10 Tausend Metern Höhe über dem Meeresspiegel zusammenknallt – ohne dass die eine je einen Blick in die andere hätten werfen können. Wir können wahrnehmen, wenn ein anderer bewegt ist, wenn es einer Pflanze schlecht geht, wenn ein Tier leidet. Die Empfindung ist das Geheimnis der Existenz. Über sie erfahren wir aus der Literatur. Darum lesen wir Literatur. Sie ist Mimesis.

Mimesis bezog im Verständnis der Griechen die Tatsache mit ein, dass wir immer schon in dem Da, das wir zu sein haben, eingebettet sind. Mimesis bezog sich auf die Wirklichkeit, deren Vorzug es ist, dass sie auf den Wahrnehmenden einwirkt. Das römische Individuum machte aus der Mimesis die imitatio, und das moderne Subjekt schließlich aus der Nachahmung die Kopie. Allein an dieser sehr kurzen Übersetzungsgeschichte ließe sich ganz im Sinne Heideggers der Untergang des Abendlandes ablesen, zumindest die dramatischen Schwundstufen der Seinsgeschichte. Eine Kopie ist ein mathematisches Konstrukt, das nicht mehr in die Wirklichkeit eingebettet ist. Die Kopie bezieht sich auf den Verstand, nicht auf die Welt.

Platon hat die mimetische Darstellung von der Erkenntnis getrennt: Er glaubte an die Vorherrschaft der Vernunft und wollte die Dichter aus dem Staat jagen. Platon war Sartre, nur deutlich vorher. Dieser platonischen Erbfeindschaft der Vernunft gegen alles Mimetische haben wir es zu verdanken, dass das Gehirn an Stelle der Seele zur zentralen Instanz der Gegenwart geworden ist – Gehirn und Intelligenz.

Begriffsgeschichtlich gehören Leib und Seele zusammen. In De anima bezeichnet Aristoteles die Mitwahrnehmung der Wahrnehmung als Seele. Hegel hat das platonisch mit Bewusstsein übersetzt. Eine Seele, die den Tod des Körpers überlebt, war für Aristoteles wie für alle Griechen seiner Zeit ein Ding der Unmöglichkeit. Der Seele Unsterblichkeit einzuhauchen und vom Körper zu lösen – dieses Kunststück haben erst später die christlichen Kommentatoren vollbracht.

Für Aristoteles ist die Seele das, was den Körper spezifiziert, was ihn konkret macht (lat. concretus = mit der Erde zusammengewachsen) – zu dieser Blume, zu diesem Dalmatiner, zu diesem Menschen dort drüben im Foyer oder zu diesem Kiesel hier vor meinen Füßen. Seele ist nichts, was dem Menschen vorbehalten bliebe. Seele ist die Erfahrung des Körpers, um mit Jean-Luc Nancy zu sprechen. Unmöglich, dass einer Seele verborgen bliebe, dass sie existiert, dass sie in der Welt drinsteckt. Sie erlebt ja die Welt. Sogar im Schlaf scheint sie nicht aufzuhören zu erleben, dass sie existiert.

Es geht in der Literatur nicht so sehr um Kommunikation oder um Verstehen. Das wäre platonisch gedacht – und Platon ist bekanntlich für die Dichtung der falsche Gewährsmann. Der Denkmuskel ist nur ein Muskel. Es geht um mimetische Nachbildung. Es geht um die Gestaltung dieser je einzigartigen Empfindung, die das verkörperte Leben ist. Das Mimetische der Literatur oder, genauer, des Romans, besteht nun genau darin, dass im Erzählen die Wirklichkeit nachgebildet wird: die Tatsache nämlich, dass Zeit fließt. Das Erzählen bildet die Richtung der Zeit nach. Sein als Zeit.

Erinnern wir uns der platonischen Erbfeindschaft, um uns zu vergegenwärtigen, dass die Darstellung als eigene Erkenntnisform anerkannt werden muss – ebenso wie der Traum und vieles andere. Wir müssen den Geschichten mehr vertrauen als den Tatsachen, denn Wahrheit ist Gestalt, nicht Doktrin. Der Mensch lebt mythisch auf der Erde. Anders gesagt: Der Stoff spricht selbst. Er braucht keine Theorie (Bewusstsein im Hegelschen Sinn), die sich als Bauchredner nur immer stärker zwischen die Menschen und ihr Erleben schiebt.

Im Erleben erleben wir ja das Eingebettetsein im Da-Sein. Und das ist immer ein Mitsein. Kein Eremit bleibt Eremit, selbst wenn er einer sein sollte. Es geht um das Da, um die Mitteilung dieser Empfindung. Aber die Empfindung kommuniziert nicht.
Diese Gedanken sind inspiriert von Juan S. Guses wunderbarem Essay Sprechen über Literatur, den dieser auf hundertvierzehn.de publiziert hat, dem Blog des S. Fischer Verlages.

TRAURIGE TROPEN

Es ist schon erstaunlich: Im öffentlichen Diskurs ist die Ideologie des Kolonialismus erledigt. Wird aber gemeldet, dass irgendwo ein erdähnlicher Planet entdeckt worden ist, dann schwingt in dem Triumphgeheul, das sich daraufhin über den Köpfen der Gemeinde erhebt, mit, dass die alten Träume von der Beherrschung der Welt längst nicht ausgeträumt sind. Kepler-452b, der jüngst entdeckte Kandidat, der die Erde beerben können soll, ist einer von 500, die im vergangenen halben Jahr entdeckt worden sind. Insgesamt gibt es inzwischen knapp 5 Tausend Planeten, von denen wir annehmen, dass sie Leben tragen könnten. Und alle Nerds dieser Erde träumen davon, mit dieser Zwillingserde in Kontakt zu treten, den Planeten zu besiedeln und in ihm wie in der Erde eine Mine zu sehen – etwas, das ausgebeutet werden kann. Letztlich ist das gesamte Universum nichts anderes als ein Rohstofflieferant für unsere Bedürfnisse. Nach Ansicht der NASA ist Kepler-452b wohl 1,5 Milliarden Jahre älter als unser Planet. Eins Komma fünf Milliarden Jahre.

Was bedeutet das? Addiert man zum gegenwärtigen Stand der technisch-naturwissenschaftlichen Zivilisation eins Komma fünf Milliarden Jahre hinzu, so fragt man sich, warum die Erde nicht schon längst von den Bewohnern auf Kepler-452b besucht worden ist. Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit hätte das nahezu zwingend passieren müssen. In diesem Zeitraum hatte der Fortschritt so wahnsinnig viel Zeit, einen Schritt in die richtige Richtung zu machen und munter fortzuschreiten, dass wir einfach längst besucht worden sein müssten. Wenn nicht von den Bewohnern Kepler-452b’s, dann von irgendjemandem sonst. Selbst Außenbezirke der Milchstraße kommen dafür in Frage. Ein Mann wie Däniken hat ja gerade gezeigt, wohin es führt, wenn man die Linearität der physikalischen Zeit und den mit ihr verbundenen Fortschrittsglauben auf die geschichtliche Zeit überträgt. Ob wir annehmen, dass Gott die Erde mitsamt ihrer Fossilien geschaffen hat – oder an Däniken glauben, das folgt derselben eindimensionalen Direktive.

Nach derzeitigen Berechnungen hat der Mensch gerade mal 1,75 Millionen Jahre auf dem Buckel. In der Differenz von rund 1,498 Milliarden Jahren kann, wie wir alle wissen, einiges passieren. Und das gilt erst recht, wenn man sich vor Augen hält, dass das Universum gemäß neuesten Präzisionsmessungen 13,7 Milliarden Jahre alt ist (sind Messungen nicht immer präzise, ansonsten sie ja Schätzungen wären, aber gut). Nur, weil diese Zahl unsere Vorstellungskraft übersteigt, bemerken wir nicht die Widersprüche, in die uns die rechnenden und messenden Wissenschaften verwickeln. Der physikalische Zeithorizont ist der Nullpunkt der Geisteswissenschaften.

Warum sollte es im Universum kein Leben geben? Es gibt ja schon auf der Erde Leben neben dem unseren. Allerdings tun wir uns schwer, Leben, das anders ist als das unsere, als solches anzuerkennen. So geht die Wissenschaft etwa davon aus, dass alles Leben ähnliche biologische Voraussetzungen erfüllen muss wie das unsrige. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass alles Leben für uns nur dann Leben ist, wenn es unserem gleicht. Ein absurder Anthropozentrismus. Es gibt ja noch nicht einmal eine tragfähige (naturwissenschaftliche) Definition für Leben, d. h. wir können zwischen Leben und Nicht-Leben gar nicht sicher unterscheiden. Ebenso wenig übrigens wie zwischen Traum und Wirklichkeit. Der Traum ist nicht das Gegenteil von dem, was wirklich ist – eben nur eine Träumerei -, er ist vielmehr Teil der Wirklichkeit.

Dass wir für die Begegnung mit dem Fremden ethisch und emotional in keinster Weise gerüstet sind, dafür müssen wir nur einen Blick vor die eigene Haustür werfen. Sollte es eines Tages tatsächlich zu einem Kontakt mit extraterrestrischem Leben kommen, können wir nur hoffen, dass wir bis dahin begriffen haben, dass Leben nicht zwangsläufig genau jene Perspektive einnehmen muss, die wir einnehmen. Leben ist unabhängig davon, ob wir es als Leben anerkennen.

Nachtwärts

Thomas Palzer Nachtwärts

Sie saßen am Fenster, einander gegenüber, jeder vor dem Schmetterlingstisch, den man aus der Armlehne hervorklappen konnte. Nach einem uneinsichtigen Plan hatten sie verschiedene Gegenstände darauf ausgebreitet, vor allem ausreichend Lektüre und natürlich Lakritzschnecken, die ohne die Bücher keinen Sinn ergaben. Beide waren sie manische Leser. Wie die meisten von uns wurden sie vom Sichtbaren nicht zufriedengestellt.

Der Münchner Autor und Filmemacher Thomas Palzer verarbeitet in seinem neuen Roman “Nachtwärts” seine ganz persönliche Leerfahrt. Das gespenstische Gefühl, in einem leeren Zug zu sitzen, ohne dessen Ziel zu kennen, hat er vor einigen Jahren selbst erlebt. Hoch sensibel für die Gefühle und Ängste Heranwachsender, verbindet Palzer diese Begebenheit mit einer leider alltäglichen Familiengeschichte. Es ist die Erzählung vernachlässigter Kinder, die nach Liebe schreien, indem sie sich entziehen – oder, wie in diesem Fall, selbst entführen. Mit der verbotenen Liebe, die Finn zu ihrem Entführer aufbaut, behandelt der Autor aber noch eine weitere Ebene, die nicht dem naheliegenden Stockholm-Syndrom folgt. Es geht vielmehr um die konfliktreiche Emanzipation der Tochter von ihrem Vater und die Entdeckung der eigenen Sexualität.

Im Juni 2014 auf Platz 2 der SWR Bestenliste

Eine besonders perfide, albtraumhafte Ausgangssituation hat sich auch Thomas Palzer, der in München lebende Schriftsteller und Filmemacher, ausgedacht. In Nachtwärts erzählt er von einer Entführung, die sich die Hauptperson seines neuesten Romans ausgedacht und geplant hat – für sich selbst. Allerdings sollte jeder, der so etwas vorhat, sich seinen Überltäter vorab lieber ganz genau auswählen.

Stefan Weiss am 27. 02. 2014 in derSüddeutschen Zeitung

Thomas Palzer pflegt einen bedachtsamen Erzählstil mit bewundernswerter Detailsorgfalt. Unterwandert wird der Fortgang von vielschichtigen Erinnerungen, kurzen Anekdoten und abenteuerlichen Träumen. Paralysierende Halluzinationen werden gegen die Realität in Stellung gebracht … Manchmal erzählen erdachte Figuren etwas über die Wirklichkeit, das die realen Menschenkinder nicht auszusprechen wagen. Wie die Akteure im Nachtwärts-Drama. Für das Geschwisterpaar wird der Roman zur Initiation, auch der sexuellen. Für die Erwachsenen zu “einer Reise ins Unbekannte, ins Herz der Finsternis, in das, was nicht ausgeleuchtet ist”. So endet der Roman in einer erschütternden Generalbeichte. Palzers Sprachkamera zeigt Gedanken und Gefühle in Großaufnahme. Mitunter sehnt man sich nach einem Buch wie diesem, das anmacht, weil es ungekünstelt und unwiderstehlich ist. Auch weil es noch dazu eine sinnstiftende Weisheit spiegelt: Solange du lebst, wirst du dich nie von dir selber trennen können.

IN München 4/2014

Es gibt noch einen Fahrgast, einen professionellem Schwarzfahrer und Opiumhändler, der sich Prinz nennt. Solche Leerfahrten der Deutschen Bahn gibt es wirklich. Als Thomas Palzer davon hörte, beschloss er eine neue Version seines Lieblingsbuches Kinder der Nacht von Jean Cocteau zu schreiben und sie auf diese fantastische Fahrt zu schicken. „Kinder erleben eine Welt auf ihre Weise, die oft völlig von der Erwachsenenwelt abgeschlossen ist“, so der gutaussehende Münchner Autor, ein gelernter Philosoph und Filmemacher. Laurens, seine Schwester Finn (von Josephine), eine Anspielung auf Huckleberry Finn, und der geheimnisvolle Prinz fassen den Plan, eine Entführung vorzutäuschen und den Reeder zu erpressen. Sie fahren nach Wien und rauchen Opium. „Der Tschandu verändert die Wahrnehmung. Alles erscheint überhell, extrem scharf, gesteigert. Es ist ein merkwürdiger, zwitterhafter und äußerst tyrannischer, der von ihr Besitz ergriffen hatte, ein Zustand, der einerseits der ihre war, andererseits aber das Außen um sie herum betraf, als spalte ein tiefer Riss die Welt.“ Die Geschichte ist in solchen, hier zufälligerweise ausgesuchten, schönen, geraden Sätzen erzählt. Absolut lesenswert.

Heinz Neidel am 2. Juni 2014 in denNürnberger Nachrichten

Nachtwärts fängt mit einem bestechenden Plot an, ein bisschen ist man in einer Tschick-ähnlichen Geschichte drin. Doch was Thomas Palzer aus der Irrfahrt zweier jugendlicher Geschwister macht, die aus Versehen (?) in einem leeren Zug landen, der sie nicht wie beabsichtigt nach Paris, sondern via München nach Wien bringt, geht in eine andere Dimension. Verrat, Initiation, Misstrauen und Unsicherheit prägen den Fortgang der dunklen und unheilvollen Geschichte, angereichert noch durch schräge Gestalten und bizarre locations – ein überraschendes Leseerlebnis. Eine Entdeckung!

Fräulein Magazine

Einfühlsam, nachvollziehbar und offen erzählt Thomas Palzer in Nachtwärts aus der Sicht zweier Jugendlicher, denen es im Leben an nichts fehlt und doch an so vielem. Spannend wie ein Krimi liest man über den undurchsichtigen „Prinzen”, die Gefühle der Geschwister und die Probleme des Reeders. In häufig wechselnden Perspektiven erhält man ein vollständiges Bild der Situation. Aus der Nebenfigur Finn wird schließlich die zentrale Figur, die sich vom Vater löst, indem sie sich einen Ersatz für ihn sucht. Nachtwärts ist eine gleichzeitig spannende und sensible Geschichte über das Erwachsenwerden und die Schwierigkeiten von Jugendlichen, die trotz aller Möglichkeiten, die ihnen offen stehen, dennoch auf sich selbst gestellt sind.

Bücherpunkt Blaubeuren

Leselink

Nachtwärts Thomas Palzer

Literaturportal Bayern
Im Gespräch mit Fridolin Schley: der Schriftsteller Thomas Palzer
Über Realität

Das kommende Buch

Das kommende Buch. Essay. Matthes & Seitz MSeB 2013
Das kommende Buch. Essay. Matthes & Seitz MSeB 2013

Großverleger prophezeien den Untergang der Verlage, die Piraten reklamieren den Untergang der Verlage, Amazon forciert den Untergang der Verlage. Wie sieht die Zukunft des Buchs aus, wenn es groß angelegte epische Serienprojekte wie “The Wire”, “Game of Thrones”, “Sopranos” und “Breaking Bad” gibt, um unseren Hunger nach guten Geschichten zu stillen? Gibt es einen signifikanten Distinktionsgewinn durch eBooks? Lassen sich Klassiker wie Joyce’ “Ulysses”, Manns “Zauberberg” auch digital verstehen? Klar und illusionslos beschreibt Thomas Palzer in diesem grundlegenden Essay das Wesen der Autorschaft und des klassischen Buchs sowie die grundlegenden Veränderungen, denen sie unterworfen sind.

Palzer ist Verfasser anspruchsvoller Essays von hoher ästhetischer Qualität.

Wikipedia 2015

Spam Poetry

Thomas Palzer Spam Poetry

Täglich landet in meinem Junk-Ordner „Spam“ – jene merkwürdige Form von elektronischen Postwurfsendungen, die dem Internetzeitalter zu verdanken ist. Anfangs habe ich die zum Teil grotesken Mails amüsiert zur Kenntnis genommen, dann wurden sie mir lästig. Es ging immer um dasselbe: um billiges Viagra, billige Rasenmäher, um angeblich extrem einträgliche Geldgeschäfte, um Tresore und Markenuhren zum Schleuderpreis oder um Gewinne, die man sich über die Lose fremder Menschen, die dafür bezahlt hatten, erschwindeln konnte. Ich ärgerte mich über den Schwall Bescheuertheit, mit dem ich mich täglich zu beschäftigen hatte, auch wenn ich die Mails nach einiger Zeit überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nahm. Ich musste dennoch mit ihnen Zeit verbringen, denn ich musste sie ja zumindest löschen. Das nervte.

Vor einiger Zeit kam ich daher auf die Idee, den umgekehrten Weg einzuschlagen und das Zeug bewusst zu sammeln. Bald hatte sich auf meiner Festplatte eine gigantische Menge Text angehäuft. Bei der oberflächlichen Durchsicht wurde mir klar, dass ich es hier mit einer gegenwärtigen Form der écriture automatique zu tun hatte
– mit der Renaissance einer literarischen Technik, wie sie von deren Erfindern vor gut einhundert Jahren nicht vorherzusehen gewesen war. Automatisches Schreiben, das insbesondere die Surrealisten progagierten, nutzt die freie Assoziation, es geht dabei um das unzensierte Festhalten von Bildern, Sätzen, auch fehlerhaften. Das öffnete mir die Augen. Nun las ich die Texte völlig anders. Ich begriff, dass ich es mit einer Literatur zu tun hatte, wie sie ausschließlich von robotisierten Übersetzungsprogrammen geschaffen werden konnte.

Interview und Mini-Lesung im BR Zündfunk

Rezension der Deutschen Welle
Wie aus digitalem Müll Poesie wird

Schriftsteller und Spam-Poet Thomas Palzer liest Spam
Schriftsteller und Spam-Poet Thomas Palzer liest Spam

Ruin

Thomas Palzer Ruin

Gewohnt sind wir von Thomas Palzer überraschende, kluge und anschauliche Verbindungen vom Abfall des Alltags mit weitreichenden Diagnosen der Gegenwart. Jetzt aber, mit dem Roman Ruin, kommt etwas besonderes hinzu: die Versenkung in eine abgründige Erfahrung, die Konfrontation mit dem Unausweichlichen. Um es auf kürzest mögliche Weise und mit den wichtigsten Wörtern der Welt zu sagen: Es geht um den Tod eines geliebten Menschen.

Hubert Winkels

Interview Lesezeichen 12/2005

Ruin. Roman. Blumenbar 2005

 Armin Kratzert im Interview mit Thomas Palzer für BR Lesezeichen
Armin Kratzert im Interview mit Thomas Palzer für BR Lesezeichen

Thomas Palzer hat mit Ruin einen vielschichtigen Zeitroman geschrieben, eine Liebesgeschichte und einen Gesellschaftsroman. Er verwebt die Biografie des Vaters, des reichen und renommierten Kunsthändlers, mit der noch längst nicht glücklich beendeten politischen Zusammenführung von Ost und West. Er erzählt auf eine erstaunlich einfühlsame und dezente Weise von einer verbotenen Liebe (von deren Unmöglichkeit freilich nur der Leser und Dora etwas wissen, während Viggen bis zum Schluss unwissend bleibt). Und er wendet ein Verfahren an, das schon Michel Houellebecq in seinen Roman erfolgreich erprobt hat (mit dessen analytischer Kraft und Beobachtungsgabe Palzer es aufnehmen kann, ohne dessen Schärfe zu erreichen): Immer wieder finden sich in Ruin längere essayistische Passagen, die eine gesellschaftliche Tendenz, eine historische Entwicklung sozusagen als Behauptung und mit Zugriff auf das Große und Ganze in den Text stellen, um dann im Einzelnen, in den Charakteren ausgeführt und bewiesen zu werden.

Christoph Schröder am 22. 2. 2006 in der
Frankfurter Rundschau

„Die Hauptsachen“, im vergangenen Herbst auf deutsch erschienen, ist nur ein Beispiel aus einer verblüffenden Anzahl von Romanen, autobiographischen Schriften oder Sachbüchern, die sich gegenwärtig auf die Suche nach dem Vater begeben. Sie loten die Vaterschaft in allen Aspekten aus, trauern um den verblaßten Helden, fahnden nach einem schwer greifbaren Phantom: Hanns Josef Ortheils „Die geheimen Stunden der Nacht“ etwa, Jens Petersens Aspekte-gekröntes „Die Haushalterin“, Frank Goosens „Pink Moon”, Thommie Bayers „Singyogel“, Richard von Schirachs „Der Schatten meines Vaters“, Thomas Langs „Am Seil“, Thomas Palzers “Ruin” oder zuletzt Lars Brandts „Andenken“ – sie alle kreisen um Vaterschaft und Kindesbürde, um alte Rechnungen und neue Gerechtigkeit, um innerfamiliäre Kontinuität und den Versuch, aus den von den Eltern vorgezeichneten Bahnen auszubrechen. Und nicht zuletzt um das oft verzweifelte Bemühen, des Vaters habhaft zu werden, das schemenhafte Bild mit Leben anzufüllen.

Tilmann Spreckelsen am 10. 3. 2006 in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Mit großer erzählerischer Raffinesse haucht Thomas Palzer dem alten Topos von der Seelenverwandtschaft neues Leben ein. Er weiß, dass in der Liebe ohne den Gleichklang der Seelen nichts geht. Und er scheut sich nicht, dieses altmodische Wort in seinen mit zeitkritischen Passagen brillierenden Roman einzuführen. Gegenwartsdiagnostik und Neubelebung von Denkmodellen, die auf dem Weg der Modernisierung verloren gingen, kommen hier zusammen. Erst das macht diesen Roman, für den der Autor den Tukan-Preis bekommen hat, besonders. Dora ist Viggens Halbschwester. Der Leser erfährt das bald, Viggen wird es bis zum Schluss nicht wissen. Palzer integriert philosophisches Denken so unauffällig in seinen Roman, dass die Lesefreude ungetrübt bleibt, obwohl er den Geist der Romantik atmet und statt “Ruin” wohl eher “Ruine” heißen müsste. Dort weht bisweilen ein ziemlich frischer Wind.

Meike Fessmann am 3. 2. 2006 in der
Süddeutsche Zeitung

Ein Mann vor dem finanziellen Abgrund; ein Mann namens Viggen, Münchener und stark auf die fünfzig zugehend; ein Mann, der zwar die Kraft hat, sich andere mögliche Leben für sich vorzustellen. Nur besteht deren Gemeinsamkeit darin, “daß sie auf einen phantastischen Ruin hinarbeiteten”. Und eine Frau, in Leipzig geboren, in Wroclaw zu Hause: Dora. Sie hasst es, verpflichtet zu sein, Kompromisse zu machen, langfristige Beziehungen einzugehen, und bezeichnet sich als “Ausnahmezustand” – diese beiden komplizierten Personen lässt Thomas Palzer in seinem schön nachhaltigen Roman “Ruin” (Blumenbar) aufeinander treffen. Der Anlass: Der Tod von Viggens Vater, der auch Doras Vater ist. Hier die bundesrepublikanisch geprägte bürgerliche Familie, dort das uneheliche Kind einer Ost-West-Liebschaft in den frühen Sechzigerjahren. Und es steckt noch mehr in “Ruin”: der Tod eines nahen, geliebten Menschen und das damit unweigerlich einsetzende Sinnieren über Sinn und Unsinn des Lebens; eine eigentümliche Liebesgeschichte, deutsch-deutsche Vergangenheit und Gegenwart, osteuropäische Geschichte. Bei aller Stoffdichte ist “Ruin” unaufdringlich erzählt, stellt aber von Beginn an eine starke, intensive Nähe zu den Protagonisten her. Was daran liegt, dass Palzers unablässig fließende Bewusstseinsprosa sich ihrer selbst so sicher ist, wie sie von den Erfordernissen der Gegenwart weiß.

Gerrit Bartels am 26. 11. 2005 in der
taz

Es beginnt im strahlenden Azur des Golfs von Neapel mit einem symbolischen Treppenaufstieg zum berühmten Haus des Schriftstellers Curzio Malaparte (dem Verfasser des Antikriegsromans “Kaputt”) und endet einsam im Tresorraurn einer Schweizer Bank: “Ruin”, die Schicksalssymphonie eines Mannes im biografisch gefährlichen Alter um die fünfzig. Sich “auf eine komplizierte Art glücklich” zu fühlen, bedeutet für Protagonisten eines postmodernen deutschen Gesellschaftsromans ungeheuer viel. Der ergrauende Filmkaufmann Viggen glaubt sich gegen die Zumutungen einer immer banaler werdenden Konsumwelt mit heiterer Gleichgültigkeit wappnen zu können. Doch als gleichzeitig der Tod und eine neue Liebe in sein Leben treten, gerät er in eine Abwärtsspirale, die Thomas Palzers bildermächtige Sprache kräftig beschleunigt.

Katrin Hillgruber am 21. 11. 2005 im kulturSPIEGEL

Camping

Camping, Roman von Thomas Palzer

Camping. Rituale des Diversen. München 2003: belleville
Mit einem Bildwerk von Wolfgang Ellenrieder
246 Seiten, broschiert
16 S. in Farbe
erschienen 2003
ISBN 978-3-933510-85-3
€ 17,00

Welche famosen Abenteuer ich dann, sozusagen auf der anderen Seite der Welt, im Namen von Ren Dhark und Commander McLane, gewiß bewaffnet mit einer Laserpistole, auf fremden, transsolaren Planeten bestehe, wissen allein meine Träume – aber die wahren für gewöhnlich die Diskretion.
Auch die Diskretion ist ein Raum, von dem die Mathematik nichts weiß.

Thomas Palzer

Mit Camping geht Thomas Palzers Bestandsaufnahme der Gegenwart in die dritte Runde. Die kleine Form als Antwort auf die Tatsache, daß das Ganze das Falsche ist. Nach Hosenträger – Nachrichten aus der Welt von Gestern (Juli 1991-August 1994) und Ab hier FKK erlaubt – 50 Schnelle Seitenblicke auf die neunziger Jahre (August 1994 – Oktober 1995) ist Camping der dritte Band, der zwischen Solidarität und Dissens changiert, der alltagskulturelle Phänomene ebenso aufgreift, wie er den Temperamentwechsel feiert, den Zufall und den politischen Einspruch. SHELL und das literarische Quartett, Politik, Kannibalismus und eMail, Kunst am Bau und das Wissen als Macht, die Farbe des Stroms und das Quiz, Gentechnologie und Überwachung, Bücher und Alkohol, Architektur, die Zukunft des Getränkemarkts, die ermüdete Moderne und BBQ – um all das geht es, und um einiges mehr. Camping – Rituale des Diversen ist ein eigensinniges Stück Literatur, ein Journal, das den Zeitraum zwischen November 1995 und Oktober 2001 begleitet – kulturdiagnostisch und kulturkritisch – von dem Anspruch getragen, sich weder von der Macht der anderen dumm machen zu lassen noch von der eigenen Ohnmacht (und darin wiederum Adornos »Minima Moralia« treu und untreu zugleich). Camping ist das Dokument eines Straßenintellektuellen, eine Textsammlung jenseits von Sittenpolizei, der Arroganz der Theorie und der von dieser erzwungenen Zustimmung. Disparate Prosastücke, die sich zu mobiler Schönheit fügen, launisch und leidenschaftlich, prosaisch und provisorisch, poetisch und pointillistisch.

Karl Bruckmaier beschreibt den Autor Thomas Palzer als Alleinunterhalter, wobei er damit jemanden verstanden wissen will, der sich mit sich selbst unterhält. Er zeigt sich in seiner kurzen Besprechung des Bandes mit Essays und Prosatexten ziemlich angetan von den dem Paradoxon verpflichteten Texten, wobei er es besonders zu schätzen weiß, daß der Autor ohne erhobenen Zeigefinder schreibt und es Palzer zudem überhaupt nicht stört, Thesen zu vertreten, von denen er ein paar Seiten später schon wieder das Gegenteil behauptet. Den Text über den Anschlag vom 11. September preist der Rezensent überwältigt als das Tiefste, das über dieses Thema geschrieben worden ist und deshalb verzeiht er Palzer auch den mitunter überhand nehmenden Sophismus seiner Prosatexte.

Süddeutsche Zeitung (revisited von Perlentaucher.de)

Ab hier FKK erlaubt

Thomas Palzer. Ab hier FKK erlaubt. 50 schnelle Seitenblicke auf die neunziger Jahre.

Thomas Palzer Ab hier FKK erlaubt. 50 schnelle Seitenblicke auf die neunziger Jahre. München 1996: C. H. Beck
186 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-933510-86-0
€ 10,–

Wie um den Erwartungen aller Aufklärungsdenker Hohn zu sprechen, die fortgesetzt die Massenkultur und ihren Drang zum niedrigsten Niveau kritisieren, weil sie nicht sehen, daß es heute mehr um Faszination denn um Bedeutung geht, gleicht die Lage einem beliebigen Tagesablauf im Fernsehprogramm, wo das Wetter nahtlos auf den Witz der Woche, der Kulturweltspiegel auf das Maggi Kochstudio und Klingendes österreich auf Leben und Sterben in Sarajewo folgt – und immer so weiter. Einziges Ordnungsprinzip ist das Datum – und das steht in krassem Widerspruch zu jenem unumstößlichen Wert westlicher Kultur: der Langlebigkeit, die von der Liebe ebenso gefordert wird wie von Grundsatzpapieren, Autobatterien und gewöhnlicher Wandfarbe. Dabei wirkt das Regiment des Datums auf seine eigene Weise aufklärerisch, denn es zeigt, daß durch Wissen allein keine Möglichkeit gegeben ist, um über Wertpositionen zu befinden.

50 schnelle Seitenblicke auf die neunziger Jahre

Eine Bestandsaufnahme der Gegenwart.

So liest man seine 5-Minuten-Essays mit Gewinn … Palzer ist ein Informationsjunkie, ein potentieller Alleswisser, der einen Bogen schlagen kann von Rousseaus Bekenntnissen zu T-Shirts, auf denen‚ was draufsteht (Blumfeld).

Tip Berlin

Wer Ohren für den Zeitgeist hat, der höre Zündfunk auf BR 2. Wer dies versäumt, kann zumindest die Beiträge Der unsichtbare Hosenträger — 5 Minuten Wohlstand für alle des 1956 geborenen philosophisch ausgebildeten Autors Thomas Palzer in überarbeiteter Form nachlesen. In 50 schnellen Seitenblicken auf die neunziger Jahre gibt er eine Kurzeinführung in die vorletzten Dinge, an die wir uns in dieser Endzeitlichkeit zu halten haben. So unübersichtlich das Nebeneinander der Stile und Moden, so rasant deren Verbrauch — höchste Zeit zu begreifen, daß es nicht mehr auf die letzten Dinge ankommt, sondern auf die nächstliegenden: etwa auf die Shampoo-Flasche am Badewannenrand. So schreibt der Autor über Kino und Lotto, Essen auf Rädern, Buß- und Bettag, Lyrik und Claudia Schiffer, Waschsalon und Rauchen in der Kirche. Sein kulturkritischer und aufklärender Blick macht vor nichts halt und hält nirgends inne. Flott zappen wir mit ihm über Felder, die den Herren Benjamin, Kracauer und Adorno wohl einmalig heilig gewesen sein müssen.

Uwe Justus Wenzel in Neue Züricher Zeitung